Freitag, 17. September 2010

Wieso versteht sie etwas?

Ich ging heute wieder zur Schule, denn schließlich bin ich unter anderem hier, um die Sprache zu lernen. Unter Leute kommen schadet auch nicht.
Die erste Stunde Algebra. Wir schreiben einen Test. Ein wunderbarer Start in einen Freitagmorgen. Das Spicken hier ist übrigens sensationell. Es wird über Bänke hinweg getuschelt, von den Spickzetteln auf den Handinnenseiten abgeschrieben, Zettel vom Klassenbesten mit bereits gelösten Aufgaben durchgereicht und sogar Fotos werden gemacht, welche per SMS an eine der höheren Klassen geschickt wird und man so nur noch auf eine Lösungs-SMS warten muss. Jedes Mal faszinierend!
Nach dem Test wurden wir von der Referendarin unterrichtet. In Deutschland hätten alle Jungs sabbernd mit Stielaugen an ihrer Schulbank gesessen- aber hier war ihre Erscheinung normal. Sie trug eine fliederfarbene Bluse, einen engen, knielangen Rock, Nylonstrümpfe und an den Füßen schwarze mind. 10cm Pumps. Ihre braunen, glatten Haare reichten bis zur Taille - sie trug sie offen. Insgesamt eine bildschöne Erscheinung- nur ihre Augen ließen eine gewisse Härte erkennen. Im Mittelalter hätte man sie für ihr bezauberndes Äußeres und den Fakt ihres offenbar erfolgreichen Mathematikstudiums sicherlich als Hexe verbrannt. Aber wir leben im 21. Jh. Und ich bin in Russland- keinem außer mir schien ihr Wissens- Schönheitscocktail aufzufallen.
In der darauffolgenden Pause bekam ich von Sonja ein Armband mit der Aufschrift: „Charly (Scharli)“ geschenkt. Sie freue sich sehr, dass ich hier bin. Ich mag Sonja auch sehr- mit eine der wenigen Personen hier mit welchen ich wirklich auf einer Wellenlänge bin. Sie ist nur 1.60m groß. Trägt ihre braunen Haare meist geflochten und ist ebenfalls Brillenträgerin. Sie scheint nicht viel von Absatzschuhen, Schleifen, Rüschen, rosa Schminke usw. zu halten. Sehr erfrischend. Eine von Grund auf liebe und ehrliche Persönlichkeit.

In der Essenspause gingen Sascha, Ksjoscha, Lera und ich Essen fassen. Heute schmeckte es wieder besonders scheußlich- man konnte es dem Essen sogar ansehen. Der zweite Gang war Kartoffelbrei, seltsam gräulich verfärbt und ohne Beilage. Ich sah das Essen angewidert an, als einer von Saschas Kumpels kam. Er sagte zu mir: „Russisch! Russisch! Kartoffeln! Russische Kartoffeln! Hm lecker!“ Wobei ich erwähne sollte, dass er schrie, als ob ich taub sei. Ich fühlte mich etwas, nun ja, unterschätzt, oder für schwachsinnig erklärt. Ich grinste den Spargeltarzan an und erwiederte: „Idiot. Glaubst du ich bin blöd?“ Sein Gesicht schlief ein. Er tuschelte zu Sascha: „Woher kennt sie russische Schimpfwörter und wieso versteht sie etwas?“ Ich übernahm das Antworten: „Sascha hat sie mir beigebracht und russisch lerne ich in der Schule.“ Er schaute irritiert an und ging fort. Ich zog es vor, die russischen Kartoffeln nicht zu essen- auch die versalzene Suppe sagte mir nicht zu. Ich aß Salat mit Brot.
Wir wollten gerade den Speiseraum verlassen, als ein kleines Mädchen- vermutlich 7 Jahre alt- mich kleinlaut von der Seite mit : „Hallo!“ begrüßte. Ich sah sie an. Sehr klein, lange blondbraune Haare zu einem Zopf zusammengebunden und mit einer riesigen, weißen Schleife fixiert. Sie trug einen blauen Karo-Falten rock und eine weiße Bluse. Ihre großen braunen Augen betrachteten mich neugierig. Ich sagte : „Hallo!“ Sie ging nicht weg. Sie sah mich an. Ich war irritiert und fragte mit einem freundlichen Lächeln: „Wie geht es dir?“ Sie antwortete, dass es ihr gut gehe und fragte mich dann ob es mir hier gefalle und was mein Lieblingsfach sei, bevor sie sich schnell wieder zu ihren Freundinnen an den Essenstisch setzte. Ich finde vor allem die letzte Frage sehr süß. Ich möchte von einem Fremden auch immer zuerst wissen, welches sein Lieblingsfach ist.
Bevor ich den Raum verließ, winkte ich dem Mädchen zu. Es strahlte und winkte zurück.

In Deutsch habe ich heute eine 5 bekommen. Jeha (wieder daran denken: 5 beste Note- 2 schlechteste). Es wäre auch echt peinlich gewesen, wenn’s keine 5 geworden wäre. Deutsch (bzw. Französisch- je nach Wahl) hat man hier nur einmal die Woche- ist meiner Meinung nach etwas sinnlos…

Nach der 7. Stunde hatte ich´s endlich geschafft und fuhr mit Ksjoscha zur Post, um nach zu fragen wie viel ein Paket nach Deutschland kostet. Das Weihnachtpaket scheint wohl flachzufallen- einfach zu teuer.

Ksjoscha fuhr zu Sascha- ich zur Wohnung. Ich aß etwas und schrieb am Blog. Bald kam auch Ksjoscha nach Hause. Wir quatschten ein bisschen bis meine Gastmutter nach Hause kam. Wir machten Tomatensalat mit Champignons und Pelmeni (aus der Tüte). Sehr lecker- wir essen übrigens immer warm hier. So etwas wie: "Ich habe eine Scheibe Brot und suche mir Wurst oder Käse dazu" gibt es hier nicht.
Nach dem Essen schrieb ich etwas an meinem Blog, als Dascha mit einer Banane angerannt kam, sie mir in die Hand drückte und mit vollem Bananenmund sagte: „Iss!“ Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – wie es so schön heißt. Denn schließlich ist „Iss!“ das meistgesagte Wort meiner Gastmutter.

Nach dem Sandmann hieß es wieder ab ins Bett.

Tagesfazit: "Nach Regen folgt auch wieder Sonnenschein."

Hier zwei Bilder von den Fluren meiner Schule, damit ihr eine bessere Vorstellung bekommt, wie es dort aussieht.

1 Kommentar:

  1. Liebe Charlotte, du scheinst eine sehr gute Beobachterin zu sein, "a very bright girl". Deine interessante Art, deine Umgebung zu beschreiben. Ich wuerde gerne Deutsch sprechen, um deine Beschreibungen genau verstehen zu koennen. Alles Gute fuer deine Zeit in Russland, Irina
    (Don`t think I wrote this by myself.)

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