Der Donnerstag begann fantastisch. Unser Bus fuhr Ksjoscha und mir vor der Nase weg, als wir darauf warteten dass die Ampel grün wird. Das bedeutete nun warten. Die Temperaturen befinden sich rund um den Gefrierpunkt und es weht ein heftiger Wind - zudem kam leichter Nieselregen auf. Wir warteten. Das nervige am Warten auf den Bus hier ist ja nicht das Warten an sich- sondern die Ungewissheit, wann der Bus nun kommt. Ob in 5, 10 oder 15 Minuten – man weiss es nicht. In solchen Momenten wünsch' ich mir den deutschen Busfahrplan. Ich fror als der Bus endlich um die Ecke bog. Zum Glück würde es heute das letzte mal vor dem Winter sein, dass ich meine Übergangsjacke tragen würde- schließlich werden wir heute mein Paket abholen. Wir stiegen in den Bus ein. Schrecklich. Noch weniger Platz als sonst. Diesmal hatte ich nicht mal meinen üblichen, knappbemessenen ¼ Quadratmeter, sondern nur Platz um mich hinzustellen. Wer Platzangst hat, sollte vermeiden zur Rush-hour mit dem Trolleybus zu fahren. Man quetscht und drängelt, keine Zeitschrift passt zwischen einen selbst und die übrigen Mitfahrer. Bei jeder Haltestelle scheinen mehr einzusteigen als auszusteigen. Irgendwann begann die Busfahrerin entnervt Durchsagen zu schreien, dass sie die Türen nicht schließen könne und gefälligst Leute aussteigen sollen. Das führte dazu, dass sie die Türen schließen konnte- aber nur weil man sich noch mehr zusammenquetschte. Und hatte ich mich eben noch über den Wind und die Kälte geärgert, so freute ich mich darüber als ich aus der zu warmen Bakterienschleuder mit beschlagenen Scheiben ausstieg.
In Geometrie erhellte sich meine Stimmung. Der Test, welchen wir in der vergangenen Algebrastunde geschrieben hatten, wurde zurückgegeben. Die Lehrerin trat an mich heran. Sie sah ernst aus. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Mit einem mal hellte sich ihr Gesicht auf. Sie sagte : „Scharlotta- kakoi maladjez!“ übersetzt: „Charlotte- welch' ein Prachtkerl!“ Wobei Prachtkerl hier auch für weibliche Geschöpfe angewendet wird. Ich schlug das Heft auf: eine 5! Eine glatte 5 in Mathematik! Ich bin im Ausland in Mathe besser als in meiner Heimat!! Nun gut - es ist die 7. Klasse, aber ich kann mich trotzdem nicht erinnern wann ich überhaupt mal ne eins in Mathe bekommen habe! JEHA!
So hoch gehoben, so schnell gefallen. In Russisch wurde das Diktat zurückgegeben. Bei mir steht ein einfaches „angesehen“ darunter. Das schreiben die Lehrer hier bei allen Austauschlern, wenn es eigentlich eine 2 gäbe, da man besagte Schülerlein nicht frustrieren will.
In der Pause darauf bekam ich drei weitere Armbänder von meinen Mitschülern der 6. Klasse geschenkt. Damit sind es jetzt schon 11 Armbänder, welche ich um meine Handgelenke trage! Man witzelt bereits, dass bei meiner Rückkehr nach Deutschland beide Arme vollständig mit Armbändern bedeckt sein werden.
Biologie war am Donnerstag einfach nur genial. Mitten in der Stunde wurde der Liebling der Lehrerin aufgefordert sich ins Vorbereitungszimmer zu setzen und Tee zu trinken. Ich stutzte. Hatte ich richtig verstanden? Tee trinken- kein Unterricht für ihn?
Nach 5 Minuten sah mich die Lehrerin an, bemerkte dass sie diesmal vergessen hatte mir wieder eins der furchtbar spannenden Biologiebücher, zum durchlesen, gegeben zu haben und meinte: „Dir muss ja furchtbar langweilig sein, wenn ich diktiere und du kaum etwas verstehst! Geh Tee trinken!“ Sie verliess das Zimmer. Ich folgte ihr. Bevor ich das Klassenzimmer verliess winkte ich meinen Klassenkameraden grinsend zu, was für Erheiterung sorgte.
Da saß ich nun in der Biologiestunde und futterte zusammen mit Wlad (dem Lehrerliebling) Kekse. Er erzählte, er habe hier letztes Jahr fast immer gesessen und wenn ich wolle, könne ich sogar den Computer einschalten und darauf spielen. Ich lachte und meinte: „Ich liebe Russland!“ Er antworte grinsend: „Ich auch!“
Am Spätnachmittag ging ich wieder zum Sport. Mein neues Trainingsprogramm hat es in sich. Zwischendurch musste ich entkräftet eine kleine Pause einlegen, in welcher ich mir mein altes, entspanntes Programm zurück wünschte. Nach ein paar Minuten strampelte ich mich weiter ab, in der Hoffnung, dass die Schinderei wirklich etwas bringt und meine Sportnote vielleicht mal besser als 3 (deutscher Maßstab) wird.
Total fertig kam ich im russischen Heim an- nur ein Gedanke: Dusche! Ich öffnete die Tür. Und da stand es. Mein Paket. Mein 17 Kilo schweres Präsent aus der geliebten Heimat. Meine warme Jacke…
Dascha sprang mir freudig entgegen und rief: „Puppenwagen! Puppenwagen!“ Das Mädchen wünscht sich seit Ewigkeiten einen Puppenwagen und geht damit allen auf die Nerven. Meine Gastmutter bat mich, einen Puppenwagen aus Deutschland zu besorgen, da hiesige Puppenwagen hässlich oder überteuert seien.
Ich öffnete das Paket. Obenauf lag ein Brief- die Handschrift meiner Mutter. Sie schrieb im Namen der Familie, dass ich ihnen fehlen würde, was im Paket drin ist und was sie noch hinzugefügt haben. Während ich las, sprang Dascha um das Paket, zerrte daran und rief immer wieder : „Puppenwagen!“
Ich sah nun genauer in das Paket. Ein Geschenk für Irina fiel mir ins Auge. Ein roter Tischläufer und ein Brief um genau zu sein. Der Brief war russisch verfasst, was unweigerlich dazu führte, dass meine Gastmutter meinen Vater nun für ein Russischgenie hält, da der Brief fehlerfrei ist und mit dem Namen meines Vaters unterschieben. Zur Zeit lebt allerdings ein Mädchen aus Moldawien bei meiner Familie, weshalb ich vermute, dass der Brief eigentlich von ihr verfasst wurde.
Für Ksjoscha war ein grüner Pulli mit der Aufschrift: „Naschkatze“ vorgesehen. Sie freute sich- schließlich ist ein Pulli mit deutschem Aufdruck hier etwas Besonderes.
Und dann war da der langersehnte Puppenwagen- welcher noch zusammengebaut werden musste. Kein großer Akt an sich. Nur Achsen einsetzen, Räder befestigen und auseinander klappen. Meine Gastmutter meinte nur: „In solchen Momenten fehlt uns der Mann im Haus!“ Ich grinste- wie gesagt kein großer Akt- und schließlich ist es ein Puppenwagen für ein 3-jähriges Mädchen, also weder besonders groß, noch schwer. Ich baute den Puppenwagen innerhalb von 5 Minuten zusammen und versetzte meine Gastmutter damit in Staunen.
Dascha schnappte sich sofort den Puppenwagen, legte eine Puppe hinein, rannte mit ihm begeistert durch die Wohnung und brüllte : „Daaaankeee!“
Ich sah erneut ins Paket. Mein Blick blieb bei „Hamley“ hängen. Hamley ist ein grünes Plüschtier, welches wir einst in England im gleichnamigen Laden kauften. Seitdem reist er überall mit hin. In jedem Familienurlaub gibt es ein Foto auf welchem Hamley zu sehen ist. Mein Vater haucht dem Plüschtier Leben ein. Ein Beispiel. Wenn meine Mutter verreist, so schickt mein Vater Tage zuvor ein Paket an den Urlaubsort meiner Mutter. Wenn meine Mutter das Paket dann nach ihrer Ankunft öffnet befindet sich in ihm Hamley und ein Zettel auf welchem steht „Ich bin schon da!“.
Nun ja, hier mal ein Bild von unserem vielgereisten Familienplüschtier im niegel-nagel-neuen Puppenwagen.
Hamley war unter anderem schon in England, in Frankreich, Spanien, an der Ostsee, in Italien (Sizilien), Tschechien, Polen ...und nun auch Russland!
Ich sah wieder in das Paket. Ich fand einen Hustentee von meinen Großeltern, welchen sie im Gedenken an meine schlimme Erkältung zu Beginn meines Aufenthaltes beigelegt hatten. Zudem noch ein Schreiben und Smarties von ihnen. Ich freute mich sehr- vor allem über die schokoladigen Smarties, welche bereits das zeitliche segnen mussten.
Dann fand ich noch Bücher, Schokolade (welche ich hier zu gegebenen Anlässen verschenken werde, da Milkaschokolade hier stark überteuert ist), meine übrigen Kleidungsstücke und vor allem meinen langersehnten Wintermantel im Paket.
Ganz unten lag ein Brief von meiner Schwester. Mein Zwilling hatte es sich nicht nehmen lassen einen persönlichen Gruß zu senden. Da ich Angst hatte weinen zu müssen, beschloss ich den Brief morgen zu lesen, wenn ich allein in der Wohnung sein würde.
An dieser Stelle: Vielen Dank an meine Familie für das Paket- im Allgemeinen für die tatkräftige Unterstützung meines Austauschjahres. Vielen Dank!
Der Freitag würde ein guter Tag werden. Das merkte ich daran, dass ich, als ich aus der Haustür trat, nicht fror. Es wehte kein Wind und in meinem Mantel war mir warm. Es wurde noch besser. Im Trolleybus war heute kein Gedränge- ich ergatterte einen Sitzplatz!
Nach einem kurzen Schultag von nur vier Stunden- von welchen eine eine Freistunde war- kehrte ich in mein russisches Heim zurück. Sturmfrei. Ich nutze die Abwesenheit der gesamten Familie, um die Schokolade in meinem Koffer zu verstecken. Der Anblick der leckeren Schokolade würde unweigerlich dazu führen, dass ich alles abgeben müsste und nichts mehr zu verschenken hätte.
Auch las ich den Brief, welchen mein Zwilling verfasst hatte. Meine Reaktion war wie erwartet und ich war froh, dass niemand zu Hause war.
Bald kehrten Dascha, Ksjoscha, Sascha und meine Gastmutter heim. Meine Gastmutter fragte mich, ob ich morgen auf Dascha aufpassen könne, da sie arbeiten müsse und keiner sonst Zeit hätte. Wie passend. Morgen muss ich ausnahmsweise nicht zur Schule, da ein Wettbewerb geschrieben wird. Der Gewinner bekommt ein Auslandsjahr in Amerika finanziert- und da ich kein russischer Staatsbürger bin, darf ich daran nicht teilnehmen. Ich muss sagen ich habe etwas Angst bis um 12 mit Dascha allein zu sein- sie neigt dazu ohne ihre Mutter in Tränen auszubrechen und zu rufen: „Meine Mutter hat mich verlassen und kommt nicht wieder!“ Mal sehen wie das wird…
Bald darauf klopfte es an der Tür. Die Volkszählung. Ich musste besondere Fragen beantworten z.B. Herkunft, Zweck des Aufenthalts usw. – könnte ja sein ich bin illegal hier. Nun ja- jetzt bin ich in der russischen Volkszählung erfasst.
Nach dem allabendlichen Ritual des Sandmannschauens ging ich zu Bett.
Fazit: „Mein Paket ist innerhalb eines Monats hier angekommen und das sogar unversehrt und vollständig! Zudem habe ich erfahren, dass man ein Paket hier von der Poststelle abholen muss…wieder mal ein sehnsuchtsvoller Gedanke an das nervige Klingeln der deutschen Post am Samstag morgen, welche auch Pakete direkt vor die Haustür bringt…“
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen