Sonntag, 30. Januar 2011

"Wenn der Schnee taut fahren wir nach Deutschland.."

Als ich am Montagmorgen die Wohnungstür abschloss, wurde ich aufmerksam von Katzen beobachtet. Ich hatte es schon mal kurz erwähnt, dass Streuner hier normal sind - auch ich habe mich mittlerweile an die herrenlosen Tierchen in den Treppenhäusern der Plattenbauten gewöhnt. Sie sind wahre Überlebenskünstler, denn trotz der eisigen Temperaturen sind sie am Leben.
Zwei Katzen...
Soviel zum Thema Mülltrennung...

Mein Schulweg wird endlich wieder mit morgendlichen Sonnenstrahlen erhellt - was sich gleichermaßen erhellend auf mein Gemüt auswirkt. Noch erfreulicher ist es allerdings, wenn man in der ersten Unterrichtsstunde des Tages (Russisch) gelobt wird, weil man im Diktat nicht mehr allzu viele Fehler gemacht hat. Dennoch ist nicht ein Satz fehlerfrei. Wer glaubt, dass deutsche Rechtschreibung kompliziert sei, hat sich noch nicht mit russischer Rechtschreibung auseinander setzen müssen. Vorsilben wie: „pre“ und „pri“, welche nur in bestimmten Fällen geschrieben werden, aber fast immer wie „pri“ ausgesprochen werden, oder Buchstabensetzung „s“, „doppel s“, „se (anderer Buchstabe)“ oder „s se“ usw. grauenhaft! Zudem gibt es hier noch „Weichheitszeichen“ und „Hartheitszeichen“. Sie zeigen an, wie einige Buchstaben ausgesprochen werden - jedoch ist der feine Unterschied der verschiedenen Aussprachen kaum hörbar für einen Nichtmuttersprachler. Ich frage mich, ob ich das jemals kapieren werde.
Nach meiner letzten Schulstunde schaute ich wieder bei der Deutschlehrerin vorbei. Wie immer begrüßte sie mich strahlend: „Hallo, meine Sonne! Wie geht es dir? Wie schön, dass du da bist!“ Wir unterhielten uns fast eine Stunde lang über Deutschland - allerdings auf Russisch. Sie kann zwar wirklich erstaunlich gut deutsch (bei weitem besser, als ich russisch) aber Übung macht den Meister – und so übe ich. Sie war zweimal in Deutschland und will noch unbedingt „das Weihnachten“ in Deutschland erleben - als sie das sagte, funkelten ihre Augen, wie die eines kleines Kindes am Heiligen Abend.

Am Abend sah ich Nachrichten: „Anschlag in Moskau“ Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die Reaktion meiner Gastmutter. Sie war gelassen. Ich sagte (mehr zu mir selbst, als zu ihr), dass ich bestürzt war. Sie erwiderte meine Aussage mit: „Letztes Jahr gab es einen Anschlag auf die Metro. Das ist Russland.“ Und verließ den Raum…

Die Auswirkungen des Anschlages waren schon am nächsten Tag zu spüren. Tscheboksary ist die Landeshauptstadt von Tschuwaschien und somit nicht irgendeine Stadt im großen, weiten Russland - ergo: die Anzahl der Milizbeamten hat sich mindestens verdoppelt. Während man in Deutschland einen Polizeibeamten eher selten zu Gesicht bekommt, so sieht man hier täglich mindestens zwei Beamte.
Völlig egal, ob viele Milizionäre oder nicht: ich musste am D-i-e-n-s-t-a-g wieder zum Zahnarzt. Ich habe keine Ahnung, was sie das letzte mal genau gemacht hat. Fakt ist: Verbessert hat sich nichts.
Ich nahm auf dem Zahnarztstuhl platz und erklärte ihr, dass die Situation unverändert schmerzempfindlich sei. Daraufhin begann sie verschiedene Spritzen zu füllen - was mich unweigerlich fragen ließ, ob ich Schmerzen befürchten müsse. Sie antwortete mit einem beruhigenden Zahnpastagrinsen und „Nein.“. Beruhigt. Mund auf. Schmerz. Ich sag' euch: Glaubt niemals einem Zahnarzt, welcher sagt, dass es ganz bestimmt nicht weh tun wird. Sie reinigte die schmerzempfindliche Stelle mit eiskaltem Wasser und versiegelte sie anschließend - ich frage mich, warum sie das nicht gleich beim ersten mal gemacht hat. Nach der Behandlung erklärte sie mir, was sie gemacht hatte, wobei es mir lieber gewesen wäre, im Voraus zu wissen, was auf mich zu kommt. Obwohl sie wirklich sehr nett ist, war ich froh, als ich endlich das Weite suchen konnte - ich bin kein sonderlich großer Fan von Zahnarztbesuchen.

Am Mittwoch verschliefen Xjuscha und ich um ungefähr 20 Minuten. Dies veranlasste Dascha dazu uns den gesamten Morgen mit: „Ihr Dummerchen habt verschlafen.“ zu ärgern. Insgesamt ist Dascha allerdings wesentlich anhänglicher bezüglich meiner Person geworden. Wenn ihre Mutter und sie nach Hause kommen, erwarte ich sie meist schon an der Tür. Dascha rennt dann quietschend in meine Arme und ruft „Meine Scharlotta! Nicht deine! Nur MEINE!“ Seit neustem ruft sie außerdem: „Wenn der Schnee taut, fahren wir zu Scharlotta nach Deutschland!“ Zum knutschen! Meine Eltern haben meine Gastfamilie bereits eingeladen, aber ob das nun dieses oder nächstes Jahr etwas wird, steht nicht fest. Ach - da wir gerade bei Daschas Aussprüchen sind: Sie hat vor nicht allzu langer Zeit verstanden, dass Deutschland ein anderes Land ist und ich dort bis vor kurzem gelebt habe. Dies ließ sie natürlich zu niedlichen Fragen verleiten:
„Scharlotta, hast du eine Mami?“
„Natürlich.“
„Und einen Papi? Hast du einen Papi?“
„Ja, wenn du willst kann ich dir sogar Bilder zeigen.“
Und dann saß das 3-jährige Mädchen auf meinem Schoß und ließ sich voller Begeisterung Bilder meiner Familie zeigen.

„Scharlotta, gibt es bei euch in Deutschland Geschäfte?“ Ich musste grinsen…

Gedankensprung. Es ist Mittwoch und ich befinde mich gerade im Speiseraum meiner Schule. Dies ist einer der wenigen wirklich geheizten Räumen, was mich dazu veranlasst meine Freistunden hier zu verbringen. Zu mir gesellte sich eine Elftklässlerin (also auch 17 Jahre alt). Ich kannte sie bereits flüchtig. Sie war ein Jahr in Amerika gewesen. Wir unterhielten uns darüber, wie es ist, ein Jahr getrennt von allem Vertrauten zu verbringen und über die Erfahrungen die man dabei sammelt. Es ist so, als wäre ich durch das Austauschjahr in eine Art Klub eingetreten. Sobald man einen anderen Austauschler trifft, scheint man automatisch auf der selben Wellenlänge zu sein - ein seltsames, aber durchaus positives Gefühl. Sie sagte etwas, was sich in mein Hinterstübchen eingebrannt hat:
„Der Flug ins Abenteuer ist wesentlich leichter, als der Flug zurück.“ Wahrscheinlich werde ich Sonntagmorgen, wenn ich im Halbdusel zu faul bin, um aufzustehen, darüber nachdenken - vermutlich mehr als nur einmal.

Es reicht! Die Ereignisse des Donnerstags veranlaßten mich dazu, dass dies das letzte Mal war, dass ich zu dem dämlichen Training gegangen bin. Jedes Mal zeigt uns die Trainerin „Vorher-Nachher Bilder“ (dick-dünn). Im vorherigen Monat kam mal ein Gerippe zum Training. Wirklich: Die junge Frau hatte eingefallene Wangen, keine Kurven - also nur Haut und Knochen. Schrecklich! Meine Trainerin meinte nur: „Das ist ein beispielhaftes Modell, Mädels!“ Ich weiss ja nicht… Männer sind zwar einfach gestrickt, aber so primitiv wie ein Hund, um sich über Knochen zu freuen, sind sie nicht…oder?
Naja, jedenfalls sprach mich die Trainerin am Donnerstag an. Sie machte mir ein Kompliment zu meiner Figur und meinte, jetzt könnte man von mir Fotoaufnahmen machen. Na klar. Soweit kommt’s noch. Ich stell' mich doch nicht in 'nem hautengen Body vor die Kamera und schreibe anschließend eine Erfolgsgeschichte zu meiner tollen Figur. Nein danke.

Sowohl am Donnerstag als auch am Samstag fiel Biologie aus und somit gab es weder Kekse noch Tee für mich - schade. Anstelle vom Biologieunterricht des Samstages besuchten wir das Schulkonzert. Am Samstag war Tag der offenen Tür. Aber auch dieser Tag wird hier etwas anders begangen, als in Deutschland. An meiner deutschen Schule ist dann am Nachmittag für alle Interessierten geöffnet. Ein kleines Konzert, Theaterstücke und Präsentation der Lehrmethoden bzw. kleine Ausstellung zum ach so wunderbaren Schulleben. Außerdem werden noch kleine Spiele veranstaltet und Erfrischungen bzw. Snacks angeboten. Hier haben die Eltern die Gelegenheit den Unterricht ihres Kindes mitzuerleben. Bedeutet im Klartext: Meine Gastmutter kam total gestresst nach Hause, da die Hälfte der Eltern angetanzt war und ihr nun auf die Finger gesehen hat (sie ist Grundschullehrerin).
Desweiteren fand noch ein kleines Konzert statt. Dieses wurde mit einem Tangotanzpaar eingeleitet, welches zum Lied „der Pariser Tango“ von Mireille Mathieu tanzte. Schlagartig musste ich grinsend an meine Mutter denken. Sie hat oft solche Lieder gehört, was mich als Kleinkind sehr begeistert hat, später allerdings nur nervraubend wurde. Ich sang leise mit und strahlte über das ganze Gesicht. Natascha fragte erstaunt woher ich so gut französisch könne - darauf meinte ich: „Das ist Deutsch.“ Sie sah mich erstaunt an. Ich war nicht weniger erstaunt, denn schließlich lernt sie seit mindestens 2 Jahren Französisch…
Ansonsten war der Tag der offenen Tür ein normaler Tag, ohne weitere Aktionen.

Anschließend gingen wir wieder zu Xjuschas Vater und machten einen kurzen Abstecher zur Gutmütigen. Ich mag die Besuche bei Xjuschas Oma nicht mehr so, seit jenem Ereignis:
Oma „Ist ja schön, dass ihr gekommen seid! Wollt ihr was essen?“
Xjuscha „Nein, danke. Wir haben bereits in der Schule gegessen.“
Oma „Ich hab gestern erst Suppe gemacht!“
Xjuscha: „Nein wirklich, wir haben keinen Hunger.“
Oma: „Was ist mit Fisch? Die Suppe habe ich übrigens nach einem neuen Rezept gemacht!“
Xjuscha „Nein.“
Oma „Aber irgendwas müsst ihr doch essen! Ihr seid so schrecklich abgemagert! Ich hab auch Kartoffeln und Salat - wieso wollt ihr meine Suppe nicht?“
Xjuscha (langsam verkrampft sich der Ton ihrer Stimme): „Nein, danke. Wir haben doch schon in der Schule gegessen. Wir sind satt.“
Oma: „Na gut. Und Tee? Ich habe auch Grapefruit gekauft und Mandarinen…irgendwo hier ist auch noch Schokolade…“
Xjuscha (gibt sich geschlagen): „Ja. Tee…“
Wenn man hier sagt: „Lasst uns Tee trinken.“ Bedeutet das: „Lasst uns Torte, Kekse und Schokolade essen und dazu Tee trinken.“ Die Gutmütige tafelte nun auf. Xjuscha und ich aßen Mandarinen und Grapefruit. Nur von dem Süßkram ließ ich die Finger.
Oma: „Wieso isst du nichts Süßes?“
Ich. „Danke ich bin satt.“
Oma: „Hmm. Aber du musst doch was essen, Kind!“
Ich: „In der Schule habe ich Suppe, Salat und noch Plov gegessen - ich bin satt.“
Die Gutmütige öffnet die Verpackung der Schokolade, stellt sich vor mich, nimmt mir die Mandarine aus der Hand und sagt: „Iss!“
Ich (Mühe die Fassung zu behalten. Hat sie mir grad' wirklich gesundes Obst aus der Hand genommen, um mir unerwünschtes Konfekt zu geben?!): „Nein, danke. Ich möchte nicht.“
Xjuscha (bei ihr blinken die Alarmglocken. Sie merkt, das ihre Oma zu weit gegangen war. Springt auf, nimmt der Oma das Konfekt aus der Hand und meint: „Oma - wenn sie doch satt ist..“
Die Gutmütige ließ ab und plauderte unverändert weiter.
Die Essverkrampftheit in diesem Land ist wirklich unangenehm.
Mädchen hungern, um auszusehen wie eins der Gerippe aus Modezeitschriften.
Erwachsene essen so oft es geht. Ein normales Mittelmaß scheint es selten zu geben. Naja - wenigstens ist das Essen lecker.

Fazit: „Dem Thema „Essen“ wird hier ein viel zu hoher Stellenwert eingeräumt, wobei das erwünschte, gesunde Maß an Nahrungsaufnahme selten eingehalten wird.“

PS.: Xjuschas Vater hat gerade angerufen- wir machen heute einen Ausflug an die Wolga - jeha!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen