Sonntag, 9. Januar 2011

Zeitreise

Die ersten Tage des neuen Jahres fingen schon mal super an. Wir sahen jede Menge Filme, welche sich im Besitz von Ksjoschas Bruder befinden. Ansonsten taten wir nichts - außer lange, wirklich lange, schlafen. Endlich bis in die Mittagsstundenden schlummern. Jaja, Daschas Abwesenheit hat durchaus ihre Vorteile.
Mittlerweile habe ich den Entschluss gefasst, einen Monat zu fasten. Eigentlich wollte ich am 1.1. beginnen, aber da wir vorübergehend bei Ksjoschas Vater eingezogen sind und ich die Gastfreundschaft durch „Extrawürste“ in Sachen Essenszubereitung nicht überstrapazieren wollte, habe ich beschlossen, erst an dem Tag zu beginnen, an welchem wir wieder in unser russisches Heim zurückkehren werden. Einen Monat werde ich auf Fleisch, Eier und Süßes verzichten. Warum ich mir das antue? 3 Kilo mehr auf der Waage ist die Antwort. Das macht pro Monat meiner Anwesenheit in Russland fast 1 Kilo mehr! Den Vorgang gilt es zu stoppen. – Ich weiß jetzt schon, dass meine Gastmutter verständnislos die Hände über dem Kopf zusammen schlagen wird, aber da lasse ich mir noch etwas einfallen.

Am 6. Januar war hier Heilig Abend. Am 7. Januar begeht man Weihnachten mit einem Kirchenbesuch.
An besagtem 6. Januar kam Ksjoschas Vater in unser Zimmer, in welchem wir die meiste Zeit des Tages verbrachten und Filme ansahen. Er sagte:
„Scharlotta, kommst du mit ins Dorf?“
Viele Fragen. Was für ein Dorf? Wozu?
Wenn man hier vom „Dorf“ spricht stelle ich mir immer ein kleines, russisches Dorf aus einem Märchenfilm vor.
„Welches Dorf? Wozu? Fragte ich.
„Wir fahren zu meinem Bruder und feiern Weihnachten. Das Dorf heiß „Sjenjale - Kotjaki“ (tschuwaschischen Ursprungs)
„Klar komm' ich mit!“
Ich würde mir doch nicht entgehen lassen, ein russisches Dorf und eine Weihnachtsfeier zu erleben.
5 Minuten später kam er wieder ins Zimmer und sagte mit etwas unglücklicher Miene:
„Wir haben nicht gezählt. Oma, meine Frau, Jana, Ksjoscha, ich und du. So viele Leute passen nicht ins Auto - na ja - da müssen wir mal sehen, wie wir das machen.“
Eine Viertelstunde später saß ich auf dem Beifahrersitz. Die Rückbank teilten sich die Gutmütige (andere Oma Ksjoschas) mit Ksjoscha und Jana saß auf dem Schoß ihrer Mutter. Aber hey - das ist nichts, was nicht auch in Deutschland vorkommen würde.
Die Straße war ganz passabel, nur ein paar Schlaglöcher und Unebenheiten hier und da. Das Autoradio spielte die russischen Charts. Ein Lied gleicht dem anderen - meist handeln sie von Liebe, Herzschmerz und Rache oder Kummerertränkung. Aber für eine etwas holprige Autofahrt, durch Wald über verschneite Felder und dem heranbrechenden Sonnenuntergang, hätte es, in dem Moment, keine bessere Hintergrundmusik geben können.

Hier Fotos der Fahrt:


Nach ca. einer dreiviertel Stunde waren wir am Ziel. Es war bereits dunkel. Ich stieg aus und sah mich um. Ein breites Grinsen zierte nun mein Gesicht, denn was ich erblickte war: ein Brunnen. Ein funktionsfähiger, mit Eimerchen ausgerüsteter Brunnen. Hier ein Bild:


Ich sah mich weiter um: Da gab es eine Straße, welche links und recht von Schneehaufen gesäumt war. Und dann waren da noch Häuschen. Kleine, niedliche, teilweise bunt bemalte Häuschen. Schon jetzt fühlte ich mich, als hätte jemand die Zeit zurück gedreht. Das Brettertor wurde geöffnet und wir herzlichst begrüßt. Hier kannte man mich ja noch nicht - völlig egal - ich wurde sofort wärmstens aufgenommen.

Wir betraten das Haus, was zur Folge hatte, dass mein glückliches Grinsen sich bis zu meinen Ohren dehnte.
Wir standen zunächst im Vorraum, welchen ihr auf diesem Bild sehen könnt
:



Anschließend betraten wir die Stube. Auf diesem Bild sichtbar:


Hier soll einst ein alter Backofen gestanden haben - zu schade, dass man ihn entfernt hat.

Das ganze Haus bestand nur aus der Stube, einem Schlafzimmer und einer Küche. Gekrönt wurde mein Gefühl, sich in einer Zeitschleife zu befinden, von einem russischen Mütterchen, welches im Sessel saß und strickte.

Zwar nicht stickend, aber jetzt wisst ihr, was ich mit "ein russisches Mütterchen" meine:


Man gab uns selbstgehäkelte Hausschuhe:
Cool oder?


Ksjoschas Vater beschloss schließlich, sich mit uns alte Fotos ansehen zu wollen, doch anstatt eines Albums holte er einen Plastikbeutel, prall gefüllt mit unsortierten, unbeschrifteten Fotos aus dem Schrank. Super Bilder! Menschen, welche auf dem Dorfplatz tanzen, während ein Mann auf einem Schifferklavier spielt usw. Eben wie ich mir das russische Völkchen, des vergangenen Jahrhunderts, vorgestellt hatte - das es wirklich so war ist fast zu schön um wahr zu sein. Die Gutmütige erzählte zu den Bildern. Sie ist übrigens die einzige die wirklich permanent mit mir spricht, wenn wir uns sehen (abgesehen von Ksjoscha natürlich).

Die Gutmütige beim Ansehen der Fotos; ungeordnete Erinnerungen...

Wie im Märchen, oder? :)

Ein Tisch wurde in der Stube aufgestellt und mit Speisen bedeckt. Ksjoscha und ich gingen in die Küche, um uns die Hände zu waschen, da wir den superdicken Hauskater gestreichelt hatten.


Beiweisfoto des dicken Tierchens

Als ich die Küche betrat, war es um mich geschehen. Ich strahlte wie ein kleines Mädchen, was endlich sein gewünschtes Weihnachtsgeschenk in den Händen hält.
Eine winzige Küche - ach ich zeig' euch lieber gleich Bilder, den Anblick will ich euch nicht vorenthalten:
Leider sind die Bilder schwarz-weiss, da Ksjoscha sie gemacht hat und da sie schwarz-weiss Fotos liebt, fotografiert sie ausschließlich auf diese Art und Weise - zu spät mitbekommen.


Wir aßen hausgemachte Pelmeni. Nach und nach betraten weitere Familienmitglieder die Stube. Man fragte mich die üblichen Fragen und war anschließend fest davon überzeugt, dass ich fließend russisch könne - leider ist das nicht der Fall. Und selbst wenn es der Fall wäre, hätte es mir in der russischen Isba (Bezeichnung des Hauses) nicht weitergeholfen, da man sich hier untereinander auf tschuwaschisch unterhält.
Ein vermutlich 50 jähriger Mann unterhielt sich mit mir. Er war in der DDR stationiert gewesen und konnte noch ein paar Brocken Deutsch - diese Art von Gesprächen führe ich hier öfter. Er meinte, er liebe Deutschland und deutsche Straßen. Er sei weit gereist und selbst in Afrika hätte man bessere Straßen, als in Russland, fürchte er. Er verabschiedete sich mit einem Handkuss und meinte es wäre sehr angenehm gewesen, mich kennen gelernt zu haben. Ich erwiederte seine Worte höflichkeitsgemäß mit „gleichfalls“. Dies und die Tatsache, dass unser vorhergehendes Gespräch auf russisch stattgefunden hatte, führte dazu, dass er erstaunt guckte und sagte: „Sie spricht russisch, wie…wie tschuwaschisch.“ Dieser Aussage können zwei Bedeutungen zugeordnet werden: Entweder meinte er ich spräche so gut, wie eine Einheimische, oder ich habe einen furchtbaren Akzent, denn Muttersprachler der tschuwaschischen Sprache haben meist einen starken Akzent, wenn sie russisch sprechen (so sagte man mir).
Während des Essens lief natürlich wieder der Fernseher und es wurde getrunken - zu Weihnachten! Mittlerweile kann ich einen Angetrunkenen innerhalb von Sekunden ausmachen - auch ohne dass diese Person spricht.
Nach dem Essen fragte mich die Frau des Hauses, ob ich mir mal die Lämmer ansehen will. Ich willigte ein. Man gab Ksjoscha und mir Arbeitsjacken und Valenki, damit wir uns unsere Kleidung nicht einsauten. Valenki sind altrussische Winterstiefel aus Schafsfell. Sehen etwas plump aus, aber sind absolut wasserfest und warm. Natürlich will ich euch meinen Anblick nicht vorenthalten:


Als Sascha das Foto sah, kommentiert er es mit: „Ein echtes russisches Weib!“

Wir betraten den Stall. Die Wände waren mit Frost überzogen, was dazu führte, dass der gesamte Stall glitzerte. Wunderschön! Man drückte mir ein Lämmchen in die Arme – hier ein Foto:


Der Hund, welcher seine Hundehütte auf dem Platz zwischen Haus und Stall hat (so ähnlich wie ein Dreiseitenhof - nur etwas niedlicher), begrüßte uns, als wir wieder aus dem Stall kamen. Ksjoscha zeigte mir anschließend was eine Banja ist. Dazu stapften wir über das Grundstück und blieben an einem Häuschen, aus welchem starker Nebel/ Rauch austrat, stehen. Wir betraten das Häuschen. Man kann sich das wie eine Art Sauna vorstellen. Es gibt zwei Räume. In einem steht ein Ofen und heizt - dort ist der heißeste Platz um zu „banieren“ (saunieren wäre in diesem Falle nicht richtig). Durch eine Tür abgetrennt gibt es einen zweiten Raum, in welchem es nicht ganz so heiß ist.
In einer Banja ist die Luft erfüllt vom Holzrauch - ziemlich stickig. Nach dem „banieren“ wäscht man sich oder wirft sich vorzugsweise in den Schnee. Die Menschen hier liebem Banja und banieren so oft wie es ihnen möglich ist. Ich hatte weder Handtuch, noch Waschzeug dabei… und ich verspürte keinen sonderlich großen Wunsch mir den Raum mit nackten, fremden Frauen zu teilen (ja Papa ich weiß, dass du an dieser Stelle die Hände über dem Kopf zusammen schlagen wirst und dich fragen wirst, was um alles in der Welt du an meiner Erziehung falsch gemacht hast, dass ich so prüde geworden bin). Aber nächstes mal (ich wurde eingeladen noch mal im Sommer vorbei zu schauen) mache ich es 100%ig.

Kurz vor neun Uhr machten wir uns auf die Rückfahrt. Ksjoschas Vater setzte uns gleich am russischen Heim ab, denn endlich war Ksjoscha Bruder mit seinem Kumpel verreist, womit meine Gastschwester und ich endlich wieder den Luxus des Alleinleibens genießen konnten.

Hier noch ein paar Bilder des Märchens:


Das Banjahäuschen:




Das verschneite Örtchen...




Milchtröge :D




Eingeschneit...



Ksjoscha sitzt auf dem Sofa. Die Tür ist klasse oder?



Am 7. Januar machten wir uns auf den Weg zur Post. Mein Geburtstags- und Weihnachtsgeschenkpaket von meiner Familie ist endlich angekommen. Doch als wir an der Post waren, hatte sie geschlossen, denn schließlich war am 7. Weihnachten- damit hätten wir rechnen sollen.

Paketabholversuch der 2.: Einen Tag später stiefelten Ksjoscha und ich wieder los. Ich hatte Visa, Ausweis und den Zettel, dass das Paket abzuholen sei, eingepackt. Wir redeten mit der Frau am Schalter. Einziges Problem: Das Paket war auf meine Gastmutter ausgestellt und dieses mal schienen meine Eltern nicht noch zusätzlich meinen Namen draufgeschrieben zu haben - wir gingen wieder.

Paketabholversuch der 3. : Wir standen 5 Minuten in der Post und beratschlagten uns. So schnell würden wir nicht aufgeben, denn schließlich würde meine Gastmutter erst am 11.1. wieder kommen und bis dahin wollte ich mein Paket bereits haben.
Wir gingen also wieder zu der Frau. Sie sah uns und schickte gleich eine andere Zuständige hin. Wir flunkerten, dass meine Gastmutter erst in 1,5 Monaten wieder komme und wir nicht wollen, dass das Paket zurück gesendet wird. Doch selbst als wir auf die Tränendrüse drückten mit: „Das sind Neujahrsgeschenke“ und „ich habe meine Familie zu Neujahr nicht gesehen und jetzt will ich doch nur die Nachricht von ihnen abholen…“ Es half nichts. Wir gingen.

Paketabholversuch der 4. : Wieder auf der Straße hatte ich die Faxen dicke: Es muss doch möglich sein mein Paket abzuholen. Entschlossen stiefelte ich zurück. Ich textete die Frau am Schalter zu, dass es doch möglich sein müsse das Paket meiner Eltern abzuholen. Ein Paket aus Deutschland - ich bin Deutsche. Ich schlug sogar vor den gesamten Absender zu nennen, denn schließlich weiß ich, wie meine Eltern heißen und wo sie wohnen. Mittlerweile hatte man eine dritte Zuständige zu uns geschickt. Sie meinte, es sei zwecklos. In Moskau sei das Paket noch einmal verpackt worden, um so vor unbefugter Öffnung zu schützen. Ergo: Absender nicht erkennbar. Alle drei Frauen vertrösteten uns mit dem selben gekünstelten Gesichtsausdruck: „Nur dem, auf dem Paket erwähnten Empfänger können wir das Paket aushändigen.“ Aaarrrg! mittlerweile wäre ich dem Schaltertantchen fast an die Gurgel gesprungen.

Paketabholversuch der 5. : Zurück im russischen Heim kam Ksjoscha und ich die glänzende Idee, dass wir einfach Dokumente ihrer Mutter vorweisen und somit u.a. bestätigen, dass Ksjoscha ihre Tochter ist. Diesmal kam sogar Sascha mit.
Wieder in der Post. Sascha redete wie ein Weltmeister - zunächst bittend, dann fordernd. Er meinte, sie könne doch in die Empfangspapiere hineinschreiben, dass meine Gastmutter das Paket abgeholt hätte und nicht das wir es abgeholt hätten – wo sei denn da das Problem? Meine Gastmutter würde nicht zur Poststelle fahren und einen Aufstand machen, weil das Tantchen mir mein Paket ausgehändigt hat! Doch auch das liess sie kalt. Herrgott noch mal! (ich bitte um Verzeihung) In ganz Russland ist Korruption an der Tagesordnung - das liest man hier jeden Tag in der Zeitung. Und nur, wenn ich ein Paket abholen will…
Erfolglos machten wir uns auf den Rückweg. Wir müssen wohl warten, bis meine Gastmutter mein Paket abholt…

Die Ferien so allein zu verbringen ist super. Dascha stresst nicht und meine Gastmutter fordert nicht, dass ich mehr essen soll. Sascha besucht uns ab und zu – ansonsten machen wir was mit anderen Freunden. Mittlerweile sehen Ksjoscha und ich jeden Abend einen Film gemeinsam an - ein hipp hipp hurra auf das große Filmrepertoire ihres Bruders.
Aber für Ksjoscha sind die Ferien nicht ganz so entspannt. So musste sie am 4. und 5. in die Schule, da einige Lehrer Extraunterrichtsstunden gaben, um den Schülern Unverständliches besser zu vermitteln. Das ist hier üblich. Meist findet die „beliebige Stunde“ vor der ersten Unterrichtsstunde oder am Nachmittag statt- aber auch nur, wenn es Bedarf dafür gibt. Gar nicht so schlecht, wie ich finde. So etwas scheint es in Deutschland nicht zu geben.


Soo. An dieser Stelle möchte ich mir noch erlauben auf einige Leserfragen einzugehen:


Wieviel kostet ein Brot?

Ein Brot kostet zwischen 10 und 30 Rubel. Das macht umgerechnet 25 und 75 Cent. Übrigens habe ich hier noch keinen Bäcker gesehen. Brot scheint es hier nur abgepackt und unknusprig im Supermarkt zu geben


Was ist mit Schenja?
Schenja ist nach Wolgograd gefahren und kommt in einem Monat wieder.


Wieso ist Charlotte plötzlich in der 7. Klasse?
Ich habe einen eigenen Stundenplan:

Algebra und Geometrie in der 7. Klasse
Russisch in der 6. Klasse
Englisch in der 10. Klasse
Physik, Literatur, Geografie, Englisch (noch einmal), Biologie, Geschichte in der 9. Klasse


Kann Charlotte Tolstoi schon im Originaltext versehen?

Ja, Charlotte kann. Natürlich gibt es Worte, welche ich nicht kenne, aber der Sinn des Textes ist verständlich. Aber ich lerne Russisch seit der 6. Klasse und das Buch, welches ich lese ist ein Kinderbuch.

Weitere Fragen können gern gestellt werden - schreibt sie einfach als Kommentar zu meinem Text. :)


Fazit: „Ein russisches Dorf sieht auch heute noch aus, wie aus einem alten Märchenfilm.“


Hier noch ein besonderer Gruß an meinen Cousin, welcher am 7.1. Geburtstag hatte. Ich wünsche dir noch nachträglich alles Gute
.

1 Kommentar:

  1. Hallo Lotte, ich bin per Zufall heute auf Deinen Blog gestossen und ich bin echt beeindruckt! Als ich 15/16 war habe ich ein Austauschjahr nach Australien gemacht, nicht ganz so wagsam wie für ein Jahr nach Russland zu fahren! Ich finde es toll, wie Du Deine Eindrücke beschreibst, echt humorvoll und Du schreibst sehr gut. Wünsche Dir weiterhin alles Gute,
    sei lieb gegrüsst aus Bern in der Schweiz,
    Caroline

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