Meine Gasteltern und Dascha verließen am Sonntagmorgen die Wohnung. Mittlerweile weiss ich, dass sie – wenn sie denn mal an einem Sonntagmorgen fehlen- in die Kirche gehen. Ich genoss noch etwas die Ruhe, stand schließlich auf und überflog noch einmal meinten Text. Katja hatte uns am Freitag beauftragt, mindestens 300 Wörter über unseren Austausch zu schreiben. Zufrieden mit meinem Schriftstück verpackte ich dieses in eine Mail und schickte sie ab. Ich wollte mich gerade den Hausaufgaben widmen, als meine Gastmutter mit Dascha überraschend zeitig nach Hause kam. Sie sagte nur: „Zieht euch um! Der Pfarrer kommt in einer Stunde und wird die Wohnung segnen!“ Ich verstand nicht gleich - man erklärte es mit anderen Worten. Ich verstand. Wie ich bereits schon einmal geschrieben habe: „Immer wenn ich glaube zu wissen, was als nächstes passiert, passiert etwas Unerwartetes.“ Zum Beispiel: russisch orthodoxe Wohnungssegnung statt verschlafener Sonntag.
Nun gab es bestimmte Kleidungsvorschriften. Alle weiblichen Personen des Haushaltes mussten einen Rock und ein Kopftuch tragen. Im allgemeinen gilt die Regel, je mehr Haut du bedeckst, desto besser. Ich trug also dunkle, blickdichte Strumpfhosen, einen schwarzen Pullover und knielangen Rock und ein blaues Kopftuch. Meine Gastmutter sah mich an und meinte „Sehr gut!“ Während wir begannen unser Mittag zu kochen, schossen mir eine Vielzahl an Gedanken durch den Kopf:
- Wie wird das ablaufen?
- Ist es ein Problem, dass ich evangelische Christin bin?
- Werde ich etwas verstehen?
- Wird der Pfarrer wirklich wie im Film mit einem Weihrauchgefäß durch die Wohnung gehen?
Pünktlich nach einer Stunde erschien der Würdenträger. Ein kräftiger und respekteinflößender Mann. Er trug einen schwarzen Mantel, darunter ein schwarzes Gewand, welches am Bauch von einem dünnen, ebenfalls schwarzen Band umfasst war. Auf dem Kopf trug er eine schwarze Kopfbedeckung, lange, zu einem Zopf zusammengebundene Haare und einen langen Vollbart.
Er erkundigte sich zunächst, wen er vor sich hätte. Mein Gastvater stellte jedes Familienmitglied vor. Wie ich bereits erwähnt habe, hatte ich etwas Bammel, da ich nicht dem russisch orthodoxen Glauben angehöre. Er sah mich an und sagte :
„Aus Deutschland?“
Ich: „Ja.“ Er quatschte munter drauf los wie lange er deutsch gelernt habe und dass er bedauerlicherweise alles bis auf das „Vater Unser“ vergessen habe. Ich fühlte Erleichterung.
Er betrat die Küche und öffnete den ebenfalls schwarzen Aktenkoffer, welchen er bei sich trug. Er holte – plump gesagt- einen langen, grün/gold bestickten Schal heraus, welchen er sich so um den Hals legte, dass dieser, über seinen Bauch bis ca. 20cm über dem Boden, an ihm hinabfiel. Dazu legte er noch “Handgelenkkrampen“ an, welche auf dieselbe Weise bestickt waren.
Er zündete für jede Person, welche hier lebt, eine dünne Kerze an. (Das alles fand in der Küche statt, wo auch die Ikonen stehen.)
Er wendete sich den Ikonen zu und begann zu beten. Als er sich bekreuzigte, zeichneten alle Anwesenden - wie er- mit drei Fingern ein Kreuz- Stirn- Bauch- Schultern, anschließend verneigte man sich vor den Ikonen. Ein seltsamer Anblick. Er betete so schnell, dass selbst Ksjoscha- wie sie mir im nachhinein erzählte- nicht alles verstand. Er bekreuzigte sich während seines langen Gebets oft und immer machten es alle nach. Mein Gastvater drehte sich kurz nach mir um und zwinkerte mir aufmunternd zu- er schien zu verstehen, dass es eine ungewohnte Situation für mich war.
Der Würdenträger wandte sich einer Plastikflasche, gefüllt mit Weihwasser, zu. In sein Zeitraffergebet baute er den Satz: „Ich nehme mir eure Tasse.“ ein und füllte besagten Gegenstand mit Weihwasser.
Aus seinem Koffer holte er ein goldenes, faustgroßes Weihrauchgefäß und –plump gesagt- einen pinselähnlichen Gegenstand.
Dem Hausherren gab er goldfarbene Sticker, auf welchen in schwarz das Kreuz der russisch orthodoxen Kirche abgebildet sind. In jedem Zimmer wurde ein solcher Sticker, gegenüber der Tür, angebracht. Danach nahm der Geistliche das Weihrauchgefäß und mit dem Weihwasser bespritzte er, mit Hilfe des “Pinsels“ die Wände der Wohnung. Auch hierbei zeichnete er ein Kreuz. Er begann an der Wand, an welcher die Ikonen stehen, und ging eine Runde durch die Wohnung bis er wieder bei den Ikonen ankam. Dabei klingelte sein Handy, welches passenderweise einen Kirchenchor als Klingelton hatte.
Anschließend segnete er jeden Einzelnen von uns auf dieselbe Weise. Eine nasse Angelegenheit. Dascha durfte das übrige Weihwasser aus der Tasse trinken. Damit war die Prozedur beendet. Der Würdenträger nahm alle zuvor angelegten Kleidungsstücke ab und verstaute sie in seinem Koffer. Er redete noch etwas über die Worte Gottes- ich verstand leider kaum etwas. Insgesamt eher eine respekteinflößende Person- meine Gastfamilie sah während des Wortwechsels mit ihm abwechselnd in seine Augen und dann wieder auf den Boden. Dagegen war der Pfarrer, welcher mich konfirmiert hat, ja fast ein Kumpel!
Nachdem er gegangen war, aßen wir zu Mittag, dieses bestand aus Pirogen, Huhn mit Kartoffeln, Pizza und Torte - also wie gewohnt viel.
Es war Nachmittag, ich widmete mich gerade meinen Hausaufgaben, als Jack anrief und fragte ob ich Lust hätte mit ihm an die Wolga zu gehen. Ich sagte zu.
Um 6 holte er mich ab. Wir fuhren mit einer Marschrutka an besagten Fluss. Ich war hier schon oft gewesen (auch ihr wisst durch meine Fotos wie der Seitenarm der Wolga aussieht, an welchem ich bereits in den ersten Tagen meines Austausches war), aber noch nie bei Nacht. Das Denkmal und das gesamte Ufer sind hell erleuchtet. Wir spazierten um das Ufer, bis zu einem Cafe, in welchem wir uns hinsetzten und Tee tranken. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, angefangen bei Housemusik, über den 2. Weltkrieg und endend bei Schriftstellern und Komponisten unserer Länder. Jack zitierte Puschkin- da werde ich wohl noch lange lernen müssen, bis ich Puschkin in seiner Muttersprache verstehe.
Als wir weitergingen erklärte er mir tschuwaschische Schriftzeichen und führte mich zu ein paar Denkmälern.
Das ist die Flagge von Tschuwaschien - auch hier sieht man eines der Schriftzeichen über welche man hier früher kommuniziert hat...soweit ich das richtig verstanden habe...
Wir gingen an einem Mann und einer Frau vorbei. Als Jack sich nach diesen umdrehte, tat ich es auch- es war offensichtlich, dass Besagte von Besagtem belästigt wurde. Jack meinte: „Warte kurz hier!“ Ich blieb stehen. Er ging zu dem Mann- ich stand zu weit weg um etwas hören zu können, aber wirklich Sorgen machte ich mir nicht um Jack- er besucht 3 mal die Woche einen russischen Kampfsport, welcher auch beim russischen Militär angewendet wird. Der Mann rastete aus- alles ging blitzschnell- auf einmal sehe ich einen roten Punkt auf Jack, welcher vom Laserstrahl der Pistole des Bedrängers ausgeht. Sämtliche Gedanken fallen aus. Waffe. Der Mann schreit Jack solle sich verziehen - sieht mich an- roter Punkt auf mir. Waffe auf mich. Er schreit wieder wir sollen uns verziehen. Jack und ich drehen uns um und gehen langsam. Ewig schien der Weg bis ich endlich um die Kurve gehen konnte und somit außer Gefahr war. Jack kam kurz darauf. Ich wollte ihn fragen, was das gerade war- obwohl ich es eigentlich wusste- doch er ging schnurstracks zum nächsten Kiosk und forderte die Verkäufern auf die Miliz zu alarmieren. Der Mann kam am Kiosk vorbei und bemerkte, dass Jack und ich ebenfalls vor Ort waren. Jack schaltete blitzschnell von einem „Rufen- sie- die- Polizei- Gespräch“ auf „Ich hätte gern Kaugummi“ um. Der Mann ging weiter.
Während wir auf die Miliz warteten, wurden wir von einer völlig aufgelösten Obdachlosen zugetextet, man müsse sie vor besagtem Mann beschützen. Sie war betrunken und schien dies oft zu sein, denn ihre Stimme glich einem Krächtsen. Sie verzog sich bald und Jack fand Zeit mir zu erklären, was um alles in er Welt gerade passiert war. Er meinte es war nur eine Softgun, welche mit Plastikkugeln schießt und allemal blaue Flecke verursacht- nur am Kopf können solche Verletzungen gefährlich werden. Er fragte ob alles in Ordnung sei. Seltsamerweise war ich wirklich erstaunlich gelassen.
Die Miliz kam nach 5 Minuten. Zwei Beamte. Feste, schwarze Schnürschuhe, Pelzschapka mit Wappen, eine dicke Jacke, welche von einem schwarzen Gürtel umfasst war, an welchem ein Schlagstock befestigt war. Ich stellte in Gedanken einen Vergleich mit der deutschen Polizei an, welche einen kleinen, grünen Drachen Namens „Poldi“ als Maskottchen hat...
Wir nahmen die nächste Marschrutka- bloß schnell weg! Ich dachte daran, wie oft ich gehört hatte, das Russland ein gefährlicher Ort sein kann und wie oft ich so etwas im Fernsehen gesehen habe. Erleben ist etwas anderes. Mein Begleiter meinte: „Das ist Russland. So etwas kann passieren- tut es aber zum Glück nicht oft. Es ist etwas, was du am besten gleich wieder vergisst! Wirklich alles in Ordnung?“ „Ja- aber ich geh hier Nachts nicht mehr ohne männliche Begleitung aus dem Haus….“ Und ich meinte was ich sagte.
Er lieferte mich um 10 an der Wohnungstür ab und erinnerte mich daran, welche russischen Trickfilme ich mir unbedingt ansehen müsste. Ich bedankte mich für den schönen Abend und betrat die Wohnung. Meiner Gastfamilie erzählte ich nur, dass wir spazieren waren und dass es sehr lustig war, und das ist die Wahrheit - oder zumindest ein Teil davon.
Ich ging schlafen.
Am Montag begrüßte uns die Russischlehrerin mit den Worten: „Das kürzeste Schulviertel hat angefangen- bald sind wieder Ferien, also seid etwas fröhlicher!“ Es stimmte- die nächsten Ferien beginnen tatsächlich am 31.12.10. .
Am Abend mussten Ksjoscha und ich auf Dascha aufpassen. Meine Gastmutter hatte Stress wegen des zweiten Teils des Examens und war deshalb beschäftigt. Mein Gastvater war einkaufen gegangen. Ich spielte etwas mit Dascha- wie gesagt sie ist die jüngere Ausgabe von mir, also weiss ich was sie fröhlich macht. Ich fasste sie an einem Arm und einem Fuß und drehte mich um die eigene Achse, so dass Dascha flog, so wie mein Vater es bei mir gemacht hat. Damit hatte ich mir allerdings selbst ein Bein gestellt, denn natürlich wollte sie: „Nochmaaal!“
Meine Gastmutter kam gegen um 10. Ksjoscha und ich waren erstaunt, dass ihr Mann nicht bei ihr war. Wir sind schon davon ausgegangen, dass alles Vorwände waren um heimlich ungestörte Zeit zu zweit verbringen zu können. Auch Ksjoschas Mutter war erstaunt über das lange Fernbleiben ihres Gatten.
Gegen um 11 kam er. Und begrüßte uns alle fröhlich mit einem : „ Guden Dak!“ (Akzent) Seine Frau roch an seinem Atmen. Er hatte nichts getrunken. Offenbar scheinen nicht alle russischen Männer so trinkfreudig zu sein.
Er fragte wie es mit Dascha gelaufen sei:
Ksjoscha: „Zuerst habe ich mit ihr gespielt und dann Scharlotta.“
Er: „ Ah, alles klar! Zuerst hat sie dich gestört und dann Scharlotta. Haha“
Er scherzt wirklich gern.
Fazit: „Genieße das Leben in vollen Zügen!“
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