Sonntag, 22. Mai 2011

Hip Hop!



Die restliche Woche, nach dem „Tag des Sieges“, lebten noch die „Oma“ und ihr Lebensgefährte mit uns. Wenn ich zuvor glaubte, dass meine Gastmutter wert auf „viel essen“ legt, so musste ich feststellen, dass sogar noch „viel mehr wert“ auf „viel mehr essen“ gelegt werden kann. Kurz gesagt: Es gab vier Mahlzeiten am Tag. Zum Frühstück begann man mit deftiger Suppe und Abends um 9 verabschiedete man den Tag mit viel Fleisch und zum Nachtisch Süßem. Was bleibt da noch zu sagen? „Figur adieu!“

Samstags gingen Natascha, Xjuscha und ich in die Mega Moll, um ein Geburtstagsgeschenk für Lera zu kaufen. Die Geburtstagsfeier würde bereits am nächsten Tag statt finden. Also noch reichliche 24 Stunden um ein brauchbares Geschenk zu finden. Vor 8 Monaten wäre ich bestimmt schon vor einer Woche gestresst durch die Läden gerannt. Jetzt nicht mehr. In diesem Land kann man glaube ich gar nicht an Herzkasper Aufgrund von Stress sterben. Man macht sich nämlich keinen und das ist auch besser so. :)

Und schwupp war Sonntag und ich saß im „Bar Duck“ (Restaurant) zusammen mit Lera, Xjuscha, Lena, Natascha, Seda und Lisa und feierte Geburtstag. Xjuscha, Natascha und ich schenkten Lera übrigens einen großen Wecker, damit sie Samstags mal pünktlich zur Schule kommt. Hihi. Viele Schüler kommen an Samstagen absichtlich zu spät zur Schule oder schwänzen ganz. Man geht eben ungern sechs Tage die Woche zur Schule, was ich absolut verständlich finde.
Zurück zur Geburtstagsfeier: Mit vollgeschlagenen Bäuchen fiel uns nichts besseres ein, als auf den nahegelegenen, kleinen Rummel zu gehen, welcher am Golf aufgebaut wurde. Hier ein Bild des wunderbaren Gerätes mit welchem ich fuhr. Es heißt „HipHop“:


Ein wunderbares Gerät! Die Sitze sind in einer Trommel befestigt, welche sich dreht und diese wiederum ist an den großen STanken befestigt, welche sich drehen. Natascha und ich hatte vviiiieel Spaß!! :D



Rechts sitze bzw hänge übrigens ich.



Sichtlich gut gelaunt mit Zuckerwattebart....






Am Sonntagabend verabschiedeten sich die „Oma“ und ihr Lebensgefährte und reisten ans Schwarze Meer. Xjuscha und ich freuten uns über Sturmfrei, sahen bis um zwei Uhr nachts Filme und quatschten über Gott und die Welt.
Meine Gastmutter und Dascha kehrten am Folgetag aus ihrem Familienurlaub zurück. Beide sahen wesentlich entspannter und frischer aus als sonst. Offenbar hatten sie sich gut erholt. Beide berichteten von ihren Erlebnissen und meinten, auf meine Frage hin, dass mein Gastvater in ca. einer Woche nachkommen würde.

Seit der Abreise meiner Gastmutter lag hier ein Zettel, ausgestellt von der Post, rum. Zu Deutsch: Paket ist da, Paket ist da! Wir stiefelten also zur Poststelle. Wieder hieß es Schlangestehen. Als wir endlich an der Reihe waren, meinte das Schaltertantchen, dass das Paket bereits seit einem Monat nicht abgeholt worden sei und deshalb zurück geschickt worden wäre. Bäm. Schlag ins Gesicht. Meine Gastmutter gab sich so schnell nicht geschlagen.
„Es ist kein Monat vergangen. Ich war zwischendurch für 10 Tage verreist und nicht für 30! Das ist überhaupt nicht möglich! Außerdem sind sie dazu verpflichtet mindestens einen „Erinnerungszettel“ an uns zu schicken, um uns an das Paket zu erinnern.“

„Ich kann es nicht ändern. Das Paket lag einen Monat hier und keiner hat es abgeholt. Ich persönlich habe 6 Ermahnungszettel ausgefüllt.“

„Unmöglich! Wir haben nur einen!“

„Das kann ich nicht ändern. Das Paket befindet sich nicht mehr in unserer Obhut.“


Erfolglos verließen wir das Postamt, gingen ins nächste Geschäft und erledigten kleine Einkäufe. Meine Laune war im Eimer- wie jedes mal, wenn es Gezeterte auf der Post gab, nur weil ich einen Gruß aus der Heimat abholen wollte. Xjuschas Mutter war auf 180, was schließlich dazu führte, dass wir noch einmal zur Post gingen: Mit entschlossenem, tödlichen Blick marschierte sie direkt auf das Schaltertantchen zu, ignorierte die Warteschlage und verlangte sofort den Vorgesetzten sprechen zu wollen:

Sie: „Es kann ja wohl nicht war sein, dass es hier jedes mal Probleme gibt, nur weil das Kind seine Pakete abholen möchte! Wieso haben wir keine Erinnerungszettel bekommen und warum befindet sich das Paket nicht mehr in ihrer Obhut?!“

Vorgesetzte: „Ich kann da auch nichts machen. Wenn die Kollegin sagt, sie habe persönlich sechs Zettel ausgefüllt…“


Schließlich fand man heraus, dass die sogenannte Kollegin den Wisch falsch ausgefüllt hat und so aus Wohnung 180, Wohnung 780 wurde. Sehr schlau. Das Stadtbild Tscheboksarys ist förmlich von Wolkenkratzern, mit bis zu 780 Wohnungstüren, geprägt….

Vorgesetzte: „Oh, dann handelt sich es um ein Versehen unsererseits. Sie können das Paket morgen abholen. Dazu müssen sie zum Hauptpostamt fahren, welches sich im Stadtzentrum…“

Gastmutter: „ Ich fahr nirgendwo hin! Sie schicken das Paket hier her zurück!“

Vorgesetze: „Ach hier ist übrigens noch ein anderes Paket für sie…“

Gastmutter: „Wie bitte?! Noch ein anderes? Da haben wir aber auch keinen Zettel bekommen!“

Vorgesetzte: „Ja, es wurde uns erst heute zugestellt. Sie können es gleich in empfang nehmen, wenn sie möchten. Ich bräuchte dann nur ihren Ausweis…“

Das Paket wurde uns ausgehändigt. Gastmutter immer noch auf 180- oder mittlerweile schon auf 200.

„Das Kind ist übrigens deutsche Staatsbürgerin! Jedes mal so ein Stress! Was wird das Kind wohl zu Hause erzählen…“

Wir verließen das Postgebäude.
Dascha und ihre Mutter machten sich nun auf dem Weg zu „Mütterchen“, wo sie übernachten würden. Ergo: Xjuscha und ich hatten wieder Sturmfrei. Jeha!

Im russischen Heim angekommen öffnete ich das Paket meiner Eltern. Es enthielt: ein Schreiben meines Vaters und meiner Mutter, jede Menge Süßkram (u.a.: Nutella. Xjuschas Augen funkelten, als ich jubelnd das Schokokremglas aus dem Paket zauberte.), ein Spielzeugeinhorn für Dascha, Osterhasen für Xjuscha, ein Ring von meiner Schwester an mich (mit Gravur, als Zeichen unserer Verbundenheit. Haaach Schwesterliebe… xD ) und ein Buch. Aber nicht irgendein Buch- nein…sondern mein Buch. Mein Vater hatte meine Texte bereits binden lassen. Da hielt ich es nun in der Hand. Mein Buch. Unwirklich. Nun weiß ich seit ca. 8 Monaten, dass ich ein Buch veröffentlichen werde, bringe meine Erlebnisse zu Papier und kann’s trotzdem noch nicht realisieren. Realisieren hin oder her- ich musste es noch irgendwie meiner Gastfamilie beibringen. Zum Glück hatte mein Vater eine Übersetzerin ausfindig gemacht, welche den Text ins russische brachte. So hielt ich nun schon zwei Bücher in der Hand, von deren Existenz hier noch niemand etwas wusste. Ich schritt also zur Tat:
Hinter meinem Rücken versteckte ich die Bücher und ging zu Xjuscha. Sie saß ahnungslos auf dem Sofa, unseres Zimmers, und surfte im Internet. Als sie bemerkte, dass ich regungslos vor ihr stand, sah sie mich fragend an:

Sie: „Ist was ?“

Ich (kurz und schmerzlos): „ Ich bringe ein Buch raus.“

„Was?! Worüber?“

„Über mein Austauschjahr hier.“

„Hm. Und wieso?“

Und nun begann ich ihr zu erklären, dass ich damals, als ich mich entschied nach Russland ging, verzweifelt Lektüre suchte, welche mich auf das Bevorstehende Russlandabenteuer vorbereiten würde. Vergeblich. Ich erklärte ihr, dass man da, wo ich her komme, eigentlich keine Vorstellung hat, wie das Leben heutzutage in Russland aussieht und, dass es letzten Endes alles durch meinen Vater ins rollen gebracht wurde.
Sie hörte es sich ruhig an. Ich gab ihr das Buch. Ihre Augen weiteten sich:

„Was- etwa schon fertig?“

„Nein, das ist nur ein Prototyp.“

Sie begann noch am selben Abend zu lesen.
Am nächsten Tag erklärte ich meiner Gastmutter mein Vorhaben. Sie reagierte ruhiger, als ich zunächst annahm. Auch sie begann zu lesen.
Am nächsten Tag meinte sie schließlich, dass sie die ganze Nacht durchgelesen habe und nicht aufhören hätte können. Mit einer Mischung Verwunderung und Anerkennung lobte sie meinen Schreibstil.
Am Nachmittag holte ich nun endlich das Paket meiner Großtante ab. Dieses war randvoll gefüllt mit Süßigkeiten und Backutensilien (u.a. eine Springform!). Vielen Dank, es kommt wie gerufen, denn bald hat meine Gastmutter Geburtstag und da werde ich wieder backen! Danke! :)

Themenwechsel: Schulalltag:
Mein Schuljahr in Russland nähert sich dem Ende, doch viel Zeit zum Trübsalblasen habe ich nicht. Warum? Abschlussarbeiten. In allen Fächern wird gegen Ende des Schuljahres eine Arbeit geschrieben, welche den Lernstoff des gesamten Schuljahres umfasst. Und so war auch für mich die Abschlussarbeit in Russisch unumgänglich. Am 19.05.11 saß ich mit rauchendem Kopf, im Russischklassenzimmer der dritten Etage, am vorletzten Platz der mittleren Reihe und versuchte u.a. verzweifelt die Partizipkonstruktionen in dem zuvor diktierten Text farblich hervorzuheben… Bauchgefühl? Gibt’s nicht. Ist schreiend weggerannt…

Wir schreiben Samstag, den 21.05.11, ein historischer Tag für mich. Der letzte Samstag meines Lebens, welchen ich in der Schule verbringen werde. Jeha! Ich bin so was von froh, das man in Deutschland nur 5 Tage in der Woche zur Schule geht!
In der Pause lief ich der Schulärztin über den Weg. Sie fragte mich nach meinem Befinden und irgendwie entwickelte sich daraus schließlich ein Gespräch über die niedrige Bezahlung von Ärzten. Im Durchschnitt verdient ein Arzt hier 6 000 Rubel (150 Euro), ein Grundschullehrer 8 000 Rubel (200 Euro), ein Busfahrer 10 000- 12 000 Rubel (250-300 Euro).Als ich später meine Gastmutter fragte wie viel denn notwendig sei, um ein „normales“ Leben zu führen, meinte sie 20 000 Rubel (500 Euro). Ich war geschockt! Es ist für mich unbegreiflich, wie ein Arzt, ein studierter, wissender Mensch, welcher im Stande ist Leben zu retten, weniger verdient, als ein Busfahrer! Im weiteren Verlauf des Gespräches meinte sie das Gehalt sei deshalb so niedrig, weil besagter Mann bzw. Frau der Medizin nichts herstellt. Er nimmt nur Staatsgelder, gibt aber nichts zurück. Im späteren Gespräch mit meiner Gastmutter fragte ich sie, warum ein Busfahrer dennoch mehr verdient, obwohl er ebenfalls nichts herstellt. Soweit ich verstanden habe ist der Entscheidende Unterschied folgender: Lehrer und Ärzte bekommen ihr Geld aus einem Budget ausgezahlt, worin zuvor u.a. der Steuerzahler eingezahlt hat. Da dieser „Topf“ allerdings eher halbleer, als halbvoll zu sein, ist auch das Gehalt nicht üppig. Der Busfahrer allerdings arbeitet mit „lebendigem“ Geld. Es fährt, nimmt Leute mit, Passagiere bezahlen, Busfahrer bekommt Geld. Nach diesen Gesprächen wurde mir auch klar, warum ich im Krankenhaus fast ausschließlich weibliche Ärzte antraf: Die Rollenverteilung in Russland ist klassisch: Mann ernährt Familie. Aber wenn Mann ein gewöhnlicher Arzt ist, reicht das Geld vorn und hinten nicht um diese „Ernährerrolle“ zu erfüllen.

Am Nachmittag kam Dima, Xjuschas Bruder, zu Besuch und brachte mit sich frohe Kunde: Xjuscha und ich fahren zu ihm nach Wolgograd! Damit geht ein Traum für mich in Erfüllung! Jeha! Mag sein, dass einige unter euch meine Freude nicht nachvollziehen können- noch nicht. Wolgograd ist eine Millionenstadt an den Ufern der Wolga, ca. 1000km entfernt von Cheboksary, und trug bis 1961 den Namen Stalingrad. Im Gedenken der siegreichen „Schlacht von Stalingrad“ wurde ein gigantisches Denkmal, von 84 Metern Höhe und 7900 Tonnen Gewicht, errichtet. Das will ich unbedingt mit eigenen Augen sehen! Einzelheiten der Hin- und Rückfahrt, sowie Aufendhalt müssen noch Ausgekaspert werden, aber ich freu mich jetzt schon RIESIG!
Übrigens begann auch er sofort den Prototyp zu lesen. Meine Gastmutter kam zwischendurch belustigt ins Zimmer und meinte:
„Dima sitzt da und liest. Er will nichts essen, keinen Tee und auch nicht mehr weg fahren. Er liest.“
Hihi.

Lotte

Fazit: Ein Arzt verdient weniger, als ein Busfahrer. Verdrehte Welt…

PS.: Ein besonderer Gruß geht an mein Schwesterlein, welches diese Woche eine OP über sich ergehen lassen musste. Ich bin froh, dass alles gut geklappt hat und, dass es dir gut geht! Ich liebe dich. Du fehlst.

3 Kommentare:

  1. Hallo,
    die Regierung hat versprochen bis zum nächsten Jahr die Löhne von Ärzten, Lehrern und Polizisten zu erhöhen. Teils zu verdreifachen..

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  2. Hallo,

    ja, dass habe ich vernommen. Muss allerdings dazu sagen, dass man hier etwas Skeptisch bezüglich dessen ist. Nun ja die Zeit wird es zeigenn...

    PS.: Hab allerdings nur was im Rahmen von 5-6% soweit ich weiß. Eine erhöhung um 100% ist unmöglich. Woher sollen all die Gelder kommen?

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  3. hallo,
    der staatshaushalt ist voll. öl ist teuer wie nie.. und etwas schulden machen kann man auch. also geld ist da. sie haben z.b. gesagt, dass sie die löhne von polizisten auf umgerechnet min. ca. 825 euro (33000 rubel) erhöht werden. ob`s dann wirklich so sein wird, wird man dann sehen.

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