Mittwoch, 15. Juni 2011

Синяя река

Dadurch, dass wir im Dorf Karten spielen wollten, fiel uns allen etwas auf: ich kannte kein „echtes“ russisches Kartenspiel und so brachte man mir das Spiel „Dummkopf“ bei. Fast jeden Abend spielen wir nun Karten und manchmal gelingt es mir sogar nicht permanent der „Dummkopf“ (=Verlierer) zu sein. Und wenn die „Oma“ und ihr Lebensgefährte da sind spielen die auch gleich mit.
Bei solchen Angelegenheiten bekomme ich nun immer öfter zu hören, wie langweilig es ohne mich werden würde, dass man sich das Leben hier ohne mich nur noch schwer vorstellen könne, da man sich an mich wie an ein Familienmitglied gewöhnt hat. Die „Oma“ meinte: „Bald geht es nach Hause und was bleibt sind Erinnerungen, dass du irgendwann mal 10 Monate in Russland gelebt hast.“ Xjuscha meinte nur: „Ich versuche nicht daran zu denken.“ Und ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll… noch habe ich schlappe 2 Wochen russischen Landes vor mir…

Aber nun weiter zu den Ereignissen der letzten Tage:

Beim Bauchtanz ist nun endgültig meine Tarnung aufgeflogen. Verraten hat mich mein Name. Eine Frau fragte interessiert, wie meine Eltern auf diesen so ungewöhnlichen Namen gekommen seien, womit ich gezwungen war meine Maske abzunehmen. Die Gesichter werde ich nie vergessen. Verwunderung, Erstaunen, Bewunderung und etwas Entsetzen über die eigene Unwissenheit. Ich hörte Kommentare wie: „17?! Im Ausland wird man aber schnell erwachsen, wenn man dich schon fort gelassen hat…“ . Ich fragte ob man meinen Akzent nicht mitbekommen habe. Antwort: Ja, aber man glaubte ich wäre aus einem der viele kleinen Volksgruppen (Tataren, Tschuwaschen…), welche in Russland leben. Wie gesagt: als Ausländer hat man hier gute Chancen nicht aufzufallen ;-) Eine Frau sah mich sehr ernst an und meinte schließlich: „Nein, nein und nochmals nein! Das glaube ich nicht! Du hast nicht mal nen deutschen Akzent! Ich hätte dich dem Baltikum (ehemaliges Gebiet der UdSSR= u.a. russischsprachiger Raum) zugeordnet!“ Dies hatte mir übrigens schon mal die „Oma“ und Nastina gesagt. Hihi :D

Außerdem war meine gesamte russische Familie und ich shoppen. Xjuscha und meine Gastmutter nutzen die Gelegenheit aus, dass mein russischer Vater dabei war. In Russland scheint diese Regel wirklich gelebt zu werden: Mann bezahlt. Selbst wenn nur Freunde unterschiedlichen Geschlechtes essen gehen – Mann bezahlt und das lässt er sich auch nicht nehmen.
Ich wollte mir ein paar schwarze Absatzschuhe kaufen. Ursprünglich dachte ich an etwas um 5cm, um nicht allzu hoch zu werden. Aber dann zeigte mir Xjuscha ein wunderschönes, gesenktes Paar- einziger Haken: Absatz = 9cm. Ich probierte sie an. Klasse Aussicht von hier oben. 1,80m. Mein Gastvater stellte sich neben mich. Er ist ein paar cm höher. Ich sah fragend in die Runde. Einstimmig sagte man mir ich solle sie unbedingt nehmen - selbst mein Gastvater. Gekauft. Nun gehöre auch ich auch zu den Wesen, welche auf Stelzen über den Asphalt schweben…

Wie bereits erwähnt rückt meine Abreise immer näher und somit auch das Problem des Platzmangels. Im Koffer darf ich nur 20 kg transportieren, was zwangsläufig zur Folge hat, dass der übrige Krempel mit der Post versendet werden muss. Da ich nun mittlerweile weiß, dass ein Paket schon mal einen Monat unterwegs sein kann, kümmerte ich mich bereits voriger Woche darum. In Deutschland kein Thema: Man schnappt sich irgend einen Karton, füllt ihn und schickt ihn ab. Hier ist das etwas umständlicher:
1. Woher Karton? Wir gingen zur Poststelle. Die größten Pakete dort sind zu klein. Man sagte uns, dass man am Bahnhof größere Pakete versenden könne.
Am Bahnhof (übrigens nicht so eklig versifft wie die meisten deutschen) wurde uns nach ca.1 Stunde hin und her gerenne gesagt, dass man von hier nach Deutschland nichts versenden würde.
Wieder zur Post. Wir fragten, ob man einfach irgendeinen großen Karton packen könnte. Antwort: Nein. Wir nahmen drei kleine Kartons.

2. Was darf rein? Während ich die Kartons nun füllte schrieb ich mir sorgsam auf, was ich hinein gepackt hatte, denn man darf hier bei weitem nicht alles verschicken. (z.B.: Flüssigkeiten= mögliche Bombe)
Anschließend füllte ich insgesamt 9 A5 Seiten aus, in denen ich u.a. niederschreiben musste, dass das Paket keine dem Staat schädlichen Inhalte besitzt.

3. Es ist eine Freude Sie kennen zu lernen! Mein Gastvater und ich fuhren schließlich zur Poststelle. Dort wurden die beiden Pakete (ich hatte nur zwei gefüllt) gewogen - insg. 18 Kg. Während das Schaltertantchen die Papiere überprüfte und viele Fragen zum Inhalt der Pakete stellte, verriet mein Gastvater schließlich meine Identität, womit sich auch gleich ein Gespräch über das ach so tolle Deutschland anschloss und dass das Tantchen Bekannte in Deutschland hat. Schließlich meinte sie : „Es ist eine Freude sie kennen gelernt zu haben, Scharlotta!“ Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit scheinen viele hier in die Wiege gelegt zu bekommen. :)


Das Wochenende verbrachten wir in einem kleinen Häuschen, welches der Schwester meiner Gastmutter (welche in Nowotscheboksarsk lebt) gehört. Wir waren eine große Gruppe: Gesamte Austauschfamilie - sogar Dima war dabei, die Schwester meiner Gastmutter, mit Kind und deren Bruder mit Kind.
Mit zwei Autos fuhren wir zu dem kleinen Waldhäuschen, welches sich an einem Seitenarm der Wolga befindet. Insgesamt eine Stunde fuhren wir durch Städte, Dörfer (diesmal habe ich freilaufende Schweine aus dem Fenster sehen können!) und schließlich durch Wald.
Angekommen. Ausgestiegen. Gestochen. Fazit: Nicht dazugelernt. Kaum waren die Stiche vom damaligen Dorfausflug verflogen, würden nun wieder neue dazu kommen.
Wir begaben uns zu Tisch, aßen, grillten und schwatzen. Irgendwann meinte die Schwester: „Scharlotta, du bist so eine aufgeschlossene und fröhliche junge Frau, dass ich wirklich feststellen muss, dass sich meine Einstellung zu Deutschland geändert hat - zum besseren.“ Hihi.
Dascha rannte übrigens freudestrahlend durch den Wald. Schließlich zupfte sie mich aufgeregt am Pullover und meinte: „Looos! Ich zeig dir einen Pilz!“ Zum knutschen: Pilz = grib. Dascha kann immer noch kein „r“ sprechen. Also wollte sie mir einen „glib“ zeigen. Das Wort kombiniert mit Heliumstimme eines Kleinkindes und ihren strahlenden Augen= einfach niedlich.
Gegen 11 gingen die ersten schlafen. Nach etwas Überreden blieb ich mit den übrigen wach und schwang das Tanzbein, denn es wurde ziemlich kalt - zu kalt um entspannt am Tisch zu sitzen und „Dummkopf“ zu spielen…
Um 1 ging auch ich zu Bett. Übrigens ist die Bettensituation sensationell: 1 Zimmer. 4 Betten. 10 Leute. Aus zwei Bänken wurde noch ein Bett gebastelt. Man schlief eben zu zweit oder zu dritt in einem Bett. Nur die Herren der Schöpfung (Dima und der Bruder) genossen den Luxus des Einzelbettes.
Um 6 schlich ich mich aus dem Häuschen, setzte mich ans Ufer und verlor mich in Gedanken. Gegen um 7 stellte mein Gastvater erstaunt fest, dass er nicht der erste auf den Beinen wäre. Nach und nach standen die übrigen auf. Wir frühstückten (nicht etwa Brötchen sondern gleich Plov) und machten uns schließlich auf den Rückweg.


Das Auto von Dima: ein alter Schiguli- ein Auto was noch Charme besitzt!











Auf dem Nummernschuld (untere Kante) ist sogar noch "CCCP" (=UdSSR) geschrieben!







Синяя река (Blauer Fluss)...






Ksentschik und Daschenka








Am unteren Ende saß ich Morgens um 6... :)
















Knuffig :)








Gestern veranstalteten wir ein kleines Abschiedsessen für meinen russischen Vater, da er uns heute wieder verließ. Die Stimmung am Essenstisch war nicht wie gewöhnt fröhlich und ausgelassen, sondern eher wortkarg und nachdenklich.
Heute um eins brach er auf - so sagte man mir - als ich vom Ferienlager wiederkam. Ich hatte ihm am Morgen noch eine kleine Nachricht hinterlassen, um nicht ganz ohne Verabschiedung meinerseits zu sein - schließlich werde ich ihn sobald nicht sehen - frühestens in einem Jahr. Meine Gastmutter meinte am Nachmittag, dass er sich sehr über die Zeilen gefreut habe und sie mit eingepackt habe.

Liebste Grüße aus dem nun wieder männerlosen Haushalt

Lotte


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