Sonntag, 20. März 2011

Ein friedliches Völkchen...

Letzen Sonntag habe ich mein erstes russisches Buch zu ende gelesen. Wider Erwarten war dies nicht die Märchensammlung von Lew Tolstoi, sondern „Das Schwert des Königs Afonsu“ von Alice Wieira, einer portugiesischen Schriftstellerin. Die Märchensammlung habe ich immer noch nicht beendet, da ich sie – um ehrlich zu sein - furchtbar langweilig finde. Das portugiesische Buch ist ebenfalls ein Kinderbuch für Leser ab 12 Jahren. Natürlich verstand ich nicht jedes einzelne Wort aber das Wichtigste verstand ich. So handelt das Buch von drei Kindern, welche eine unbewusst Zeitreise machen und sich plötzlich im Mittelalter wiederfinden. Es werden einige Abenteuer und natürlich die geglückte Rückreise in die Echtzeit beschrieben.
Nun habe ich angefangen „Harry Potter und der Feuerkelch“ zu lesen. Ich bin schon auf Seite 100 und vom Buch begeistert! Mittlerweile entsteht sogar das „Kopfkino“, welches beim Lesen erzeugt wird - natürlich gibt es immer noch schrecklich viele Wörter, welche nicht zu meinem Vokabular gehören.

Montagmorgen befand ich mich wieder in einem der Trolleybusse der Nummer eins, welche hier durch Tscheboksary tuckern. Die Reiseumstände im Trolleybus haben sich etwas verbessert, da mit dem Anstieg der Temperaturen die Scheiben nicht mehr vereist sind und man sich nicht mehr in einer geschlossenen, vollgestopften Kapsel reist, sondern sich mit dem Blick aus dem Fenster ablenken kann. Übrigens stieg neulich ein Kontrolleur ein. Es gibt hier also einen Schaffner, welcher Tickets kontrolliert, verkauft und immer im Bus mit fährt. Und dann gibt es noch Kontrolleure welche gelegentlich zusteigen und Fahrkarten kontrollieren. Allerdings sind diese nicht so hinterhältig, wie deutsche Fahrkartenkontrolleure, welche unauffällig, in Zivilkleidung und mindestens zu zweit einsteigen, um jede Flucht zwecklos zu machen. Die Kontrolleure hier tragen eine auffällige, rote Armbinde, auf welcher groß, in schwarz „Kontrolleur“ geschrieben steht.
Und da wir grad bei meinem so innig geliebten Trolleybus sind: Die Schaffner scheinen immer Frauen zu sein. Aber nicht irgendwelche Frauen- nein- besonders dicke Frauen. Es ist wirklich kein Scherz! Ich hab das Gefühl für die Ausübung dieses Berufes muss man nicht nur Tschuwaschisch können, ein bisschen Mathe, sondern auch mindestens den gesamten Durchgang zwischen den Sitzen ausfüllen. Ihr könnt euch vorstellen wie spaßig es ist, wenn man auf seinem knappen viertel Quadratmeter steht und der Kontrolleur an einem vorbei geht…

Ein Wunder! Was in Russisch geschah grenzte wirklich an ein Wunder! Vor nicht allzu langer Zeit schrieben wir ein Diktat und mussten im Text alle Partizipien , deren Bezugswörter markieren und dementsprechende Kommata setzen. Ich machte nur vier Fehler! Und das nicht etwa bei der Kommasetzung oder der Partizipienmarkierung - nein nur vier Fehlerchen bezüglich der Rechtschreibung! Alles andere ist mir Fehlerfrei gelungen!! Damit hatte ich eine wunderschöne 4 unter meiner Arbeit stehen und war besser, als einige meiner russischen Mitschüler! Jeha! Meine Lehrerin überreichte mir das Diktat, schüttelte mir die Hand und meinte ich hätte eine großartige Leistung vollbracht. Juhuuuu!!!

Es war wieder Lustig am Dienstag. Bauchtanz macht mir wirklich viel Spaß, auch wenn meine Zappeleien noch weit entfernt von echtem Bauchtanz sind. Aber es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Unsere Lehrerin ist wirklich humorvoll, seit zwei Unterrichtsstunden versucht sie uns beizubringen, eine Bauchwelle nur durch Bewegung der Bauchmuskeln erzeugen zu lassen. Irgendwann lacht sie auf und macht unsere verkrampften Gesichter nach, welche leider das einzige sind was sich bewegt.

Als ich Mittwoch die Schule betrat, begrüßte mich meine Gastmutter und meinte der Fotograf warte auf mich und würde gern Bilder von mir machen, um diese mit dem Artikel zu veröffentlichen. Mich traf der Schlag. Ich mein: hallo?! Foto! Zeitung! Da hätte doch ruhig jemand eher was sagen können. Meine Gastmutter brachte mich zum Büro der Vizedirektorin, welche meinte, dass leider keine Ahnung habe wo sich der Fotograf befinde. Ich sollte mich an die Englischlehrerin wenden. Wie passend, denn die erste Unterrichtstunde des Tages war Englisch. Aufgebracht erzählte ich Xjuscha und Lera vom bevorstehenden Zeitungsfoto und regte mich auf, dass hier wieder keiner im Voraus plant und einen vorbereitet.
Zu Beginn der Unterrichtstunde fragte ich meine Englischlehrerin (und YFU. Freiwillige) wo denn nun der Fotograf sei:
Sie: „Fotograf?“
Ich: „Ja.“
„Was für ein Fotograf?“
„Der, der mich für den Artikel fotografieren soll.“ Erwiederte ich mit einem Grinsen. Schon witzig, dass sie nie einen Durchblick hat, obwohl sie doch meine Schulzuständige ist…
„Ach der! Ja, der hat mich heute Morgen angerufen… Ich habe ihm aber gesagt, dass er morgen kommen soll! Er ist sowieso ein komischer Vogel, aber seine Bilder sind gut!“
„Also, was nun? Heute Foto oder morgen?“
„Keine Ahnung! Wahrscheinlich morgen…“
Ich lachte auf. Diese Unorganisiertheit ist einfach nur furchtbar - das kann man nur mit Humor nehmen. Xjuscha und Lera sahen mich grinsend an. Xjuscha meinte:
„Hihi! Charlotte dreht langsam durch!“ Und so begann der Englischunterricht mit dem Gelächter von drei Mädchen.

Besagter Fotograf kam dann am Donnerstagmorgen. Wir machten seltsam gestellte Fotos. So saß ich z.B.: Auf einem Stuhl, in der Hand ein Russischbuch und lächelte in die Kamera oder saß am Computer und grinste…weil man ja immer grinst wenn man am Computer arbeitet…
Ich bin mal gespannt wie der Artikel wird!

Freitag war wieder die „Oma“ mit ihrem Lebensgefährten zu Besuch. Wir unterhielten uns über deren finanzielle Situation. Seit Anfang des Jahres bekommen sie kein Geld mehr. Beide arbeiten in der selben Firma, in welcher, Anfang des Jahres, ein Führungswechsel stattfand. Seit diesem Zeitpunkt sind die Führungskräfte mit umorganisieren beschäftigt, was zur Folge hat, dass die Angestellten vorrübergehend nicht bezahlt werden. Man verspricht ihnen die vollständige Auszahlung der entstandenen Schuld, doch bisher haben sie noch keine Kopeke (Währung: 1Rubel = 100 Kopeken) gesehen. Es stimmte mich nachdenklich, dass man hier seit 3 Monaten kein Gehalt bekommt und dennoch weiter arbeitet. Wäre dieselbe Situation in Deutschland oder Frankreich, so bin ich mir ziemlich sicher, dass die Leute schon am streiken oder protestieren wären. Doch hier arbeitet man… wenn das nicht mal ein friedliches Völkchen ist…

Dascha hielt mich am Samstag ziemlich auf Trab. Die 9. Klassen schrieben das Probeexamen in Englisch, sodass ich frei hatte und sogleich das Vergnügen auf klein Daschula aufzupassen. Wir malten – oder sagen wir: „schmierten“ mit Wassermalfarben, lasen Märchen, tanzten, spielten verstecke usw. Woher nehmen Kleinkinder nur die Energie?! Wenn ich daran denke, dass ich ebenfalls so ein energiegeladenes Kleinkind war… meine armen Eltern… . Naja, jedenfalls, als meine Gastmutter nach Hause kam, war Dascha gut gelaunt und ich hatte sogar noch Zeit gefunden Krautnudeln zu kochen.
Nachmittags bekamen wir Besuch. Das Mütterchen, mit Mann und der Frau dessen Bruders beehrten uns. Die Frau des Bruders des Opas ist eine waschechte Dorffrau: klein, rund, gläubig und zahnlos. Außerdem spricht sie mit Dialekt. Ja: Ich bin auch ganz stolz, dass ich mittlerweile Dialekte heraushöre. Auf dem Dorfe spricht man hier meist noch auf der Volkssprache, der jeweiligen Republik z.B.: Tschuwaschisch oder Tartarisch. Und entsprechend von der Region, in welcher man lebt „okajut oder akajut“ man hier. Das bedeutet nichts anderes als das man Wörter verschieden ausspricht. Ein Beispiel:
Hier (und auch in Moskau) „akajut“ man:
„Verstehst du?“ Auf Russisch: „Ponimaesch?“ – So wird es kyrillisch geschrieben, doch hier spricht man: „Panimaesch?“ Wenn man „okajut“ spricht man: „Ponimaesch“
Übrigens ist es fantastisch, wenn man in einer Gegend lebt, wo die Leute „okajuten“, da man sich beim Diktat nicht immer die Frage stellen muss, ob man nun „a“ oder „o“ schreiben muss.
Zurück zum Besuch. Man unterhielt sich , zeigte alte Fotoalben- kurz: es war ein schöner, geselliger Abend.

Fazit: „Ich mache immer noch Fortschritte- zum Glück!“

Liebste Grüße

Lottchen

PS.: Das Wetter ist hier alles andere, als frühlingshaft. Die Temperaturen sind zwar schon bei –2 °C, womit ich nun meine deutsche Winterjacke trage, aber dennoch schneit es munter weiter….

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