Samstag, 19. Februar 2011

3 x 40 = 120 Minuten

Valentinstag. Wie ich diesen Feiertag hasse. Die ganze Welt hat sich gekünstelt lieb und kurbelt die Geschenkindustrie, mit dem Kauf sinnloser Papierglitzerherzchen, Luftballons, Süßkram und Rosen, an… In Deutschland wird der Tag nicht soo groß begangen. Verliebte schenken sich gegenseitig Rosen, Pralinen oder denken sich kleine Überraschungen aus - das mag ja noch gehen. Aber hier steht alles auf dem Kopf! Am 14.02. kam ich in die Schule und „wär´ fast aus den Latschen gekippt“. Der schwarzweiße Dresscode wurde gegen rosa- oder rotfarbene Kleidung eingetauscht, an den Klassenzimmertüren hingen kleine Kartons, welche mit Herzchengeschenkpapier beklebt waren. Dort hinein warf jeder seine Papierglitzerherzen mit den Valentinstagsglückwünschen. Zum Glück hatte Xjuscha mich etwas auf den Wahnsinn vorbereitet, sodass ich für alle meine Freunde kleine, kitschige Papierherzchen dabei hatte. Ja, ihr habt richtig gelesen: „Für meine Freunde“. Hier beschenkt man alles, was zwei Beine hat und einem irgendwann mal freundlich zugelächelt hat. Die Zimmer sind mit Herzen und Engelchen geschmückt - ganz ehrlich - hätte ich das gewusst, dann hätte ich meinen Fotoapparat eingepackt. Die absolute Krönung wartete aber in Englisch auf mich: Anstatt Unterricht aßen wir rosafarbene Herzchensahnetorte und sahen einen Film.

Am Dienstag war der Kitsch endlich vorbei und ich konnte mich der Englischolympiade widmen. Meine Englischlehrerin hatte ein paar Schülerinnen und mich gefragt, ob wir die Olympiade in der 3. Klasse betreuen könnten. Im Klartext: vier Unterrichtsstunden 1000 Fragen beantworten:
„Darf ich auf die Kopie schreiben?“
„Nein.“
„Worauf dann?“
„Auf das weiße Blatt neben dir.“

Ein anderen Schüler 5 Minuten später:
„Ach - auf die Kopie dürfen wir nicht schreiben??“
*Arrg*

Anschließend noch Punkte verteilen und beim Essen austeilen helfen.
Meine Klasse hatte wieder „Dienst“. Dazu gehört auch den Essensdamen beim Essen austeilen zu helfen. Übrigens läuft das hier anders ab, als in Deutschland. Während der Stunde decken die Essensfrauen den Tisch. Der Schüler muss sich nur noch setzen und essen. Die Lehrerinnen beaufsichtigen das und verteilen noch Suppe an all jene, welche bezahlt haben. Das Schulessen (Suppe, Hauptgericht, Salat, 1 Scheibe Brot) kostet pro Woche 175 Rubel - rund 4,40 Euro. Ach und da wir grad beim Essen sind: Das mitnehmen von Brotbüchsen oder Getränken ist hier vollkommen unüblich. Man kauft alles in der Cafeteria.

Nach der Schule besuchte ich einen Handarbeitskurs. Die freundliche Frau zeigte mir, wie man Freundschaftsarmbänder macht. Jetzt trage ich 12 Freundschaftsarmbänder und trau mich nicht ein einziges abzunehmen, da ich Angst habe jemanden zu kränken. Nächste Stunde werde ich tschuwaschische Muster sticken.

Wieder im russischen Heim machte ich meine Hausaufgaben und ging anschließend wieder zum tanzen.

Wie schade, dass ich nicht in der Grundschule bin, denn am Mittwoch waren wieder –25°C, sodass alle Grundschüler jubelnd nach Hause stürmten.
Die Praktikantin, Maria, lud mich ein am Abend zusammen mit den anderen Schülern meiner Schule den deutschen Film „Kirschblüten“ in der Universität anzusehen. Ich sagte zu.
Als der Film endete, fragte der Lehrer wie uns der Film gefallen hätte. Der Lehrer ist knapp über 20 und kommt aus Deutschland. Es meldeten sich nun einige Studenten und beurteilten den Film auf Deutsch - mit Mühe und Not. Maria stupste mich an und meinte: „Sag irgendwas in schönem Deutsch!“ Na gut. Ich meldete mich. Das Gesicht des Lehrers war knuffig: Mit akzentfreiem Deutsch hatte er offenbar nicht gerechnet. Während ich also antwortete, sah mich Maria strahlend von der Seite an.

Am Donnerstag wäre ich vor Aufregung fast gestorben. 40 Minuten lang, 3 mal über mein Heimatland auf Russisch erzählen. Immer wieder ging ich alles durch. Meine PowerPoint-Präsentation, meine Karteikarten. Die Deutschlehrerin kam auf mich zu: „So nun ist es soweit: Du wirst im Konzertsaal der Schule deine Präsentation halten.“ WAS?! Im Konzertsaal? Da, wo alle Theaterstücke bisher aufgeführt wurden…der große Saal mit Bühne? Wie gesagt: ich wäre fast gestorben. In der Pause vor der ersten Präsentation stand ich abseits der Bühne und beobachtete, wie sich der Saal füllte. Vier Klassen (insgesamt würden es nach allen 3 Präsentationen 11 Klassen werden). Der Saal war voll. Klingel. Ruhe. Erwartung. Die Deutschlehrerin hielt eine kleine Ansprache, in welcher sie meine beispielhaften Russischkenntnisse anpries - was den Druck auf mich nicht gerade minderte. Und schließlich hat Xjuscha alle Fehler zuvor berichtigt, womit meine „beispielhaften Russischkenntnisse“ nicht so beispielhaft sind. Sie übergab mir das Wort:
„Hallo, ich heiße Charlotte und heute erzähle ich euch etwas über meine Heimat Deutschland.“
„ Здравствуйте, меня зовут Шарлотта и сегодня расскажу вам про мою родину Германию.»
Auf den Wunsch der Deutschlehrerin hin, hatte ich die Einleitung zweisprachig gestaltet.
Da stand ich nun. Ich erzählte von Deutschland, meinem Heimatbundesland, Landeshauptstadt, berühmte Städte, Sehenswürdigkeiten, meinem Heimatort, Feste, deutsches Schulsystem, zeigte meine Schule, erzählte von Schülerbands, Praktikum, Facharbeit, Schüleraustausch und Karneval, von überteuerten Straßenbahnpreisen (als Grund für deutsche Fahrradfahrfreudigkeit). Mein Vater hatte im letzten Paket Straßenbahntickets mitgeschickt - als Souvenir, falls weitere Studenten Andenken aus Deutschland haben wollen. Damals schmunzelte ich über seine Worte - nach der Präsentation verschenkte ich wirklich ein paar…
Es war noch Zeit für Fragen:
Wieso bist du nach Russland gekommen?
Wo warst du überall?
Was möchtest du werden?
Was gefällt dir/ gefällt dir nicht in Russland?
Hast du Geschwister?
Gibt es an eurer Schule Schuluniformen?
Warst du zu Weihnachten zu Hause?
Nein? Wieso? Das ist bewundernswert…
Vermisst du deine Heimat?
Wie lange lernst du Russisch?
Für besonderen Gesprächsstoff sorgte meine Beschreibung eines deutschen Stundenplans.
Hier erst mal, zum Vergleich, der russische:

Schulstart: 8:30 Uhr
Schulstunde: 40 min
Pause: 15/20 min
Stundenanzahl: 5 selten 7 Stunden (Zeitstunden)
Samstags Schulpflicht
3 Monate Sommerferien

Ich gab den deutschen Stundenplan in schnellen Fakten nacheinander an - mit jedem Fakt weiteten sich die Augen und Münder der Zuschauer immer mehr zu einem Erstaunen.
Schulstart: 7:30
Schulstunde: 90 min
Pause: 10 min – Frühstücks-/ Mittagspause 20/30 min
Stundenanzahl: 7-10 (Zeitstunden)
Samstags keine Schulpflicht
Sommerferien 1,5 Monate

Im ganzen Saal tuschelte es. Man findet das System aber gut. Wir Deutschen sind jetzt übrigens - in den Augen der Zuhörer - als sehr diszipliniert, ehrgeizig und fleißig angesehen…

Nach 40 Minuten hatte ich es geschafft, beantwortete noch ein paar einzelne Fragen, setzte mich anschließend unauffällig in eine Ecke und beobachtete, wie sich der Saal erneut füllte. Ich lauschte den Gesprächen:
„Was? Vortrag über ihre Heimat Deutschland? Wird die auf Russisch erzählen oder was?! Hahaha! Bestimmt auf Englisch oder Deutsch…“
Die erstaunten Gesichter, Fragen und das Gelächter über meine kleinen Auflockerungswitze wiederholten sich.

Nach den Präsentationen kamen viele Schüler und Lehrer auf mich zu, bedankten sich für die wunderbare Präsentation und lobten mein Russisch. Die Deutschlehrerin schenkte mir zum Dank eine Tafel Schokolade, welche zum gegebenen Zeitpunkt bereits als „nichtexistent“ zu erklären ist.
Die nächste Stunde war Englisch. Als meine Englischlehrerin den Unterricht beginnen wollte und mich erblickte, stockte sie.
„Was machst du denn hier? Du hast 3 Unterrichtstunden eine wunderbare Präsentation gehalten! Marsch nach Hause mit dir, das hast du dir verdient!“
Hihi.

Im russischen Heim entspannte ich mit einem Film: „Der Junge im gestreiften Pyjama.“ Natürlich sah ich ihn auf Russisch und nicht auf Deutsch. Ein sehr ernster, nachdenklich stimmender Film…
Mit den Gedanken bei der Filmthematik widmete ich mich wieder den „fernöstlichen Tanzkünsten“. Übrigens ist meine Tarnung aufgeflogen. Auf dem Rückweg ging ich mit einer Kursteilnehmerin ein Stück. Wir unterhielten uns. Sie ist 24 und lachte erstaunt, als ich sagte ich sei 17 - nächstes Mal muss ich sie unbedingt fragen was sie glaubte, wie alt ich sei. Naja, jedenfalls folgte dieser Aussage die Schlussfolgerung, dass ich noch Schülerin bin und darauf die Frage:
„Also gehst du in die 11. Klasse?!“
Stocken. Also in Deutschland: Ja. Hier ist das so eine Sache…
„Äh, ja.“
„Wieso hast du gezögert?“
„In Deutschland wäre ich jetzt in der 11. Klasse.“
„Du bist aus Deutschland? Was machst du hier? Wie lange bist du hier?“
„Ja, bin ich. Ein Schuljahr bin ich hier als Austauschler.“
„Ach - also deine Eltern wohnen hier?“
„Nein.“
„Was machst du dann hier?“
„Austausch.“
„Aber wieso? Wieso denn Russland? Wieso geht ein 17 jähriges Mädchen für 10 Monate allein nach Russland?“
Ich erklärte es und dachte dabei an eine Frage, welche Dascha häufig stellt:
„Wo ist dein Papa?“
„Weeeit weg, Daschenka.“
„Meiner auch…“
„Ich weiß, Daschula…“
„Aber, wieso bist du hier ohne deine Eltern?“
„Äh, Dasch´… das ist schwierig zu erklären..“

Ich sah den Wetterbericht und hoffte, dass endlich mal tagsüber –35°C werden würden, denn die aktuellen –35°C nachts befreien uns nicht von der Schulpflicht… Mist. –23°C…

Ich ging also widerwillig zur Schule. Noch mehr Pesonen als sonst grinsten und winkten mir zu. Viele Lehrer und Schüler bedankten sich für die gelungene Präsentation. Es ist so wunderbar, wie freundlich dieses Völkchen ist!
Maria fragte mich, ob ich nicht mit ihr in ein Klavierkonzert gehen würde. Ihre Freundinnen hätten kurzzeitig abgesagt und nun hätte sie eine Karte übrig und würde sich über meine Gesellschaft freuen. Äh, ja. 24 jährige Praktikantin freut sich über die Gesellschaft einer 17 jährigen… Ich sagte zu.

Im russischen Heim schaltete ich meinen Computer ein. Mich traf der Schlag: 40 neue Freundschaftsanfragen bei der russischen Chatplattform, bei welcher ich mittlerweile angemeldet bin und bereits über 120 "Freunde" habe - fast alle aus meiner Schule.

Um vier machte ich mich auf den Weg zur Post. Meine Eltern haben mir ein Brief geschickt. Ich stand an dem Schalter und erkannte das selbe Tantchen, welche Xjuscha und ich das letzte mal zur Weißglut gebracht hatten, als wir vergeblich versuchten das Paket abzuholen.
Ich quatschte 10 Minuten auf sie ein, bis sie endlich nachsah, ob mein Name auf dem Brief steht. Zum Glück war dies der Fall. Ich wies mich aus und füllte eine Empfangsbestätigung aus. Anschließend setzte ich mich in ein kleines Cafe, da ich in 15 Minuten mit Maria verabredet war und somit die Zeit, um zur Wohnung zurückzukehren, nicht reichte.
Bei einem Kaffee öffnete ich den Brief und las die Zeilen meines Vaters. Meine Eltern schickten mir meine langersehnten Kopfhörer. Die speziellen Köpfhörer (für iPod Shuffle) kosten hier ca. 3000 Rubel = 75 Euro! In Deutschland erwarb man sie für 8 Euro…

5:20 Uhr traf ich mich mit Maria. Wir fuhren eine Stunde zur Oper, da wir im Stau standen. Endlich in der Oper angekommen lauschten wir zunächst einem Klavierkonzert von Brahms und anschließend einer Komposition Rachmaninows. Wieder war ich etwas geschockt:
Der Pianist spielte. Das Orchester setzte ein. Das Publikum tuschelte. Ich schloss die Augen und blendete das Tuscheln aus. Geräuschvoll wurden Bilder mit Blitzlicht geschossen - Augenschließen half nicht. Der Pianist hämmerte in die Tasten, das Orchester spielte mit Leib und Seele die Noten großartiger Komponisten. Je lauter die Künstler spielten, desto lauter tuschelte das Publikum- schließlich versteht man sich sonst nicht mehr. Ich sah mich um. Da flüsterte einer am Handy, eine Frau stopfte Kekse in sich hinein, Filmaufnahmen wurden gemacht… als ein kleines Mädchen hinter mir geräuschvoll eine Chipstüte öffnete und nun anfing geräuschvoll schmatzend den Künstlern jeglichen Respekt zu verweigern, reichte es mir:
„Kannst du bitte nach dem Konzert rumfressen?!“ Fragte ich wütend das Mädchen. Hilflos sah sie ihre Mutter, welche neben ihr saß, an. Doch Mamilein versank gerade vor Scham im Erdboden und tat, als ob sie interessiert das Stück verfolgte und deshalb nichts mitbekommen hätte.
Es ist vielleicht nachvollziehbar, wenn Schüler sich so aufführen, weil sie zum „Kulturerlebnis“ gezwungen wurden. Aber es ist unverständlich, wie sich erwachsene Menschen, welche dafür freiwillig bezahlt haben, sich so respektlos verhalten können. Maria meinte auf dem Rückweg zu mir:
„Einmal unterbrach der Pianist sein Spiel, trat an das Mikrofon und sagte: ´Ich bitte um Ruhe im Saal - vor allem die erste Reihe…`“
Doch im Großen und Ganzen war es ein schöner Abend. Er stimmte mich nachdenklich. Künstler zu sein ist ein verdammt undankbarer Job geworden. Als Star werden deine Lieder illegal gedownloadet, im Kino werden sie illegal mitgeschnitten und im Theater…

Wieder im russischen Heim verfolgte ich den Wetterbericht und ningelte vor mich hin, dass ich am Samstag wieder zur Schule müsse. Meine Gastmutter meinte: „Bleib zu Hause - ich erlaube es dir!“ Jeha! Xjuscha bleibt schon seit 3 Tagen zu Hause, da sie krank ist. Wir müssen zwar auf Dascha aufpassen aber egal: endlich wieder ein Samstag entspannen!

Besagter Samstag war ein sehr schaffensreicher Tag. Ich verfasste diesen Blog, schrieb Briefe, erledigte Hausaufgaben, passte auf Dascha auf, wischte die Böden – und das alles bis 15 Uhr. Es ist seltsam geworden an einem Samstag frei zu haben - man schafft so unglaublich viel! Und morgen noch ein ganzer freier Tag!


Gute Nacht

Lotte



PS.: ein Mädchen schrieb mir:
„Hey Scharlotta, danke für deine wunderbare Präsentation! Ich muss gestehen dich etwas um deine Fremdsprachenkenntnisse zu beneiden. Übrigens hat mindestens die Hälfte meiner Klasse, nach deinem Vortrag, beschlossen, nach Deutschland zu fahren.“
Und sie ist nicht die Einzige, welche solche Nachrichten verfasst. Ich kann mich nicht erinnern in Deutschland jemals jemanden „danke“ für eine Präsentation sagen gehört zu haben…

2 Kommentare:

  1. Hey Lotte(wenn ich dich so nennen darf? (; )
    Ich find's immer wieder bemerkenswert wie gut man sich in einem anderen Land einleben kann und was man alles für wunderbare Erfahrungen machen kann.
    Ich persönlich bin ja auch deiner Meinung: "In die USA gehen die anderen." Für mich geht's leider erst im August los, aber ich kann's schon jetzt kaum erwarten.
    Ich wünsch dir noch ne tolle Zeit!
    Liebe Grüße
    Lilly

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  2. Hey Lilly (wenn ich dich so nennen darf ;-)),
    danke für die Wünsche! Wohin gehts bei dir`?

    Grüße
    Lotte

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